Elle West
Die Glocke
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Inhaltsverzeichnis
Titel Elle West Die Glocke Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Epilog
Impressum neobooks
Die Glocke
Hell’s Kitchen, New York, 1925
Er saß an einem Tisch in einer illegalen Jazzbar, die trotz Prohibition Alkohol ausschenkte, so wie jede illegale Bar, die weiterhin bestehen wollte. Seine Hände fuhren über das Wachstischtuch, das seine besten Zeiten hinter sich hatte, wenngleich das schummrige Dämmerlicht seine Unansehnlichkeit gut zu verbergen vermochte. Dann griff er unter den Tisch, zog sich seine schwarze Reisetasche auf den eigenen Schoß, öffnete den Reißverschluss, nicht ganz, nur ein Stück weit, sodass er hinein sehen konnte. Die Dollarnoten stapelten sich scheinbar ungeordnet in seiner Tasche und ließen ihn augenblicklich grinsen. Er berührte die Scheine eines Bündels, ließ sie wie ein Daumenkino tanzen. Er hatte alles richtig gemacht. Deshalb schätzten die Menschen Geld so sehr. Nichts gab einem Mann so sehr das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben, wie Geld.
Er zog einen 50 Dollarschein hervor und legte ihn auf die Tischplatte, stellte den Boden seines Glases auf eine Ecke, um ihn dort zu befestigen. Dann schloss er den Reißverschluss und erhob sich, den Griff der Tasche mit fester Hand umschlossen.
Während er die Bar über einen Hinterhof verließ, achtete er darauf, dass ihm niemand folgte, ihn niemand auch nur ungewöhnlich neugierig beobachtete. Das Geld sorgte für Zufriedenheit, aber auch für Angst. Es war nicht nur sein Geld. Einen Teil davon musste er an seine Partner abtreten. Dennoch war er mit sich selbst und seinem Verhandlungsgeschick zufrieden. Das Risiko, dass sie alle eingingen, er jedoch bei Weitem am meisten, wie er fand, hatte den Preis eben erhöht. Er hatte argumentiert und einen größeren Gewinn heraus geholt. Seine Partner hatten ihn gewarnt, diesen Weg einzuschlagen, hatten ihm verbieten wollen, dem Boss ein solches Angebot zu unterbreiten. Sie hatten gesagt, er solle nicht gierig werden, weil dies bekanntlich im Verderben endete. Also würde er die 20 Prozent, die er gegen alle Ratschläge heraus gehandelt hatte, in die eigene Tasche stecken. Damit würde nicht nur er zufrieden sein, sondern auch seine ängstlichen Partner, die ihn hierbei ohnehin nicht unterstützt hatten. Seine Arbeit, seine Investition, seine Initiative. Also auch sein Bonus, seine 20 Prozent extra. Und immerhin hatte er es bereits von New Orleans hier her geschafft. Nun musste er nur noch seinen höheren Gewinn abschöpfen, ehe er das restliche Geld nach Harlem bringen würde. Der schwerste Teil lag also weit hinter ihm.
„Hey, Mann, kannst du ’nem armen Mann die Zeit sagen?“
Er betrachtete den Obdachlosen, der in Lumpen gehüllt vor ihn getreten war und ihm ein wenig den Weg versperrte, während er ihm abwartend ins Gesicht sah. Seine hellblauen Augen stachen in dem schmutzigen Gesicht deutlich hervor.
Er wunderte sich über den Obdachlosen, wenngleich er nicht sicher sagen konnte, wieso. Vielleicht weil seine Augen so deutlich hervor stachen. Er schüttelte kurz den Kopf und umfasste die Taschengriffe noch ein wenig fester. Er war schließlich nicht so weit gekommen, hatte nicht so viel riskiert, um in einem Hinterhof von einem Penner überfallen zu werden.
Als er an ihm vorbei gehen wollte, stellte sich ihm der Mann neuerlich in den Weg und grinste entschuldigend. „Komm schon. Ich muss nur wissen, wie spät es ist.“, wiederholte er und zuckte nervös die Schultern.
Er dachte, dass dieser Obdachlose vermutlich auch eines dieser Drogenopfer war, die von der Cosa Nostra und deren Opiumhandel ins Verderben gestürzt wurde. Also hob er den rechten Arm, damit der Ärmel seines Trenchcoats ein wenig hinaufrutschte und sah auf seine Armbanduhr. „Es ist 23 Uhr 42, Kumpel.“, las er ab.
Dann ertönte ein gedämpfter Knall, der ihm doch ohrenbetäubend laut zu sein schien. Er sah erschrocken hoch, als er den Schmerz in der Brust fühlte. Der Obdachlose hatte eine Waffe auf ihn gerichtet. Er sah in die blauen Augen seines Gegenübers, verständnislos, weil er darin keine Gier, sondern Verzweiflung fand. Wurde er Opfer eines Überfalls oder war der Mann nur verwirrt und es war ein unglücklicher Zufall, dass sie aneinander geraten waren?
Dann der nächste Schuss. Sein Bauch brannte. Er blickte an sich herunter. Sein helles Leinenhemd hatte sich bereits mit seinem Blut vollgesogen. Er sank auf die Knie, umklammerte noch immer die Reisetasche, als er sich gänzlich zu Boden fallen ließ. Seine Atmung beschleunigte sich, stockte. Sein Herz raste unregelmäßig. Er starrte in den schwarzen, sternenlosen Himmel. Das hier würde er nicht überleben. Der Schmerz war überwältigend, begann, ihn gänzlich auszufüllen.
Er hörte, wie der Obdachlose sich ebenfalls zu Boden fallen ließ. Er schluchzte wie ein Kind und sagte immer wieder, dass es ihm Leid tue.
Er selbst jedoch starrte nur weiter ins dunkle Grau über ihm. Er wollte auch weinen, doch ihm liefen nur einige Tränen aus den Augenwinkeln. Er wollte auch schluchzen, aber das Atmen schmerzte zu sehr. Und er wollte fluchen und flehen, um sein Leben bitten, doch er hustete nur sein eigenes Blut und hatte keine Stimme mehr.
Er hörte Schritte. Zwei Paar Schritte, die sich ihm und dem Obdachlosen näherten, langsam und stetig.
Ehe es gänzlich schwarz um ihn herum wurde, ehe der Schmerz ihn verließ und ihm sein Leben nahm, wurde ihm plötzlich klar, was an dem Penner so seltsam gewesen war: Der Mann hatte nur nach der Uhrzeit, nicht aber nach Geld gefragt.
Upper East Side, New York, 20. Februar 1925
Rory Coleman war 47 Jahre und auf dem Höhepunkt seines Lebens. Er war von sportlicher Statur, nicht weil er viel Sport trieb, nur zwei Mal die Woche spielte er Golf, zwei Mal die Woche Tennis und das war alles an Sport, was er ertrug, sondern hauptsächlich, weil seine Frau Maisie ihn zwang, sich gesund zu ernähren. Ob er seine Gesundheit nun ihr und ihren Essensplänen zu verdanken hatte oder er einfach gute Gene hatte, wusste er nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Tatsache war jedoch, dass er noch immer schlank, sein dunkelbraunes Haar noch voll war und er, obwohl er auf die 50 zuging, noch immer attraktiv auf Frauen jedes Alters wirkte. Rory war allerdings nicht nur gut aussehend, sondern ebenfalls intelligent. In jungen Jahren hatte er als Schriftsteller für ein kleines Lokalblatt angefangen und hatte sich kontinuierlich hoch gearbeitet. Mittlerweile schrieb er kaum noch eine Zeile selbst, ihm gehörten allerdings zehn Zeitungen. Rory war also ebenfalls reich. Und er hatte drei Kinder. Keine Söhne, also nicht unbedingt den Erben, den er sich gewünscht hatte, als Maisie vor 26 Jahren das erste Mal schwanger geworden war. Doch heute, als erfolgreicher Unternehmer und stolzer Vater von drei wunderschönen Mädchen, hatte er aufgehört, sich um seine Nachfolge Sorgen zu machen. Entweder er würde einen seiner Redakteure für die Nachfolge bestimmen oder eine seiner Töchter würde sich dazu bereit erklären. Im Grunde hoffte er, diese Arbeit selbst noch eine Weile ausführen zu können. Er ging gerne jeden Tag ins Büro und er kontrollierte gerne selbst eine Ausgabe, ehe sie in den fertigen Druck ging. Er hatte selbst gerne die Kontrolle über sein Eigentum, nur dann konnte er sicher sein, dass es ebenso funktionierte, wie er es sich vorstellte. Doch vielleicht, in ein paar Jahren, könnte seine mittlere Tochter, Hollie, diese Aufgaben übernehmen. Vielleicht in sieben Jahren. Dann wäre sie 30 und hätte vermutlich genug Erfahrungen mit dem Leben gesammelt, um ins Geschäft einzusteigen. Und er selbst würde dann auf die 60 zugehen und hätte genug Erfahrungen gesammelt, um sich zur Ruhe zu setzen.
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