Sie hatte leicht reden! Ihr selbst fehlte der Mut, den Mund gegenüber einem Lehrer aufzumachen, sie war der Liebling in vielen Klassen und wurde von vielen Schülern gemocht. Aber ich sollte mich beruhigen?
Dennoch – wie sie so vor mir stand, da wurde mir eines bewusst: Wir hatten uns sehr gern und sie würde mir niemals wehtun. Im Gegenteil, sie war das Risiko eingegangen, dass ich ihr wehtue, nur um mit mir zu sprechen. Um mich zu beruhigen. Ich merkte, wie gut mir ihr Vertrauen in diesem Moment tat. Hätte ich sie enttäuscht und weitergemacht, hätte ich sie womöglich verletzt oder selbst falls nicht, dann zumindest trotzdem als Freundin verloren.
Ich setzte mich auf den Stuhl, an dem noch immer meine Hand lag, und atmete durch. Die Wut war vorbei.
Heute habe ich zu Lene keinen Kontakt mehr; der endete, als ich die Grundschule verließ, in der ich sie kennengelernt hatte. Doch diese mutige Tat eines Grundschulmädchens hat dazu beigetragen, dass ich nicht zu dem Monster wurde, das du in mir heranzüchten wolltest.
Ein anderer Vorfall in derselben Grundschule ereignete sich mitten in einem kalten Winter. Dieses Ereignis führte kurzfristig zu einer Angst vor mir seitens der Lehrer und langfristig zu einem Rausschmiss aus der Grundschule und dem Wechsel zu einer anderen.
Die Straßen waren spiegelglatt, die Gehwege zumindest weiß. Der Eingang zum Pausenhof meiner Grundschule lag direkt an einer stark befahrenen Straße und ich machte mich gerade auf den Weg nach Hause. Wie damals für viele Schulkinder üblich, trug auch ich einen kantigen, großen und von Büchern schweren Ranzen auf dem Rücken. Kaum hatte ich das Tor nach draußen passiert und den Gehweg betreten, kamen mir sechs oder sieben andere Schüler hinterher und hielten mich auf. Umzingelten mich. Sie schubsten mich zwischen sich hin und her, immer näher an die Straße. Kontinuierlich fuhren dort Autos vorbei; es hätte der richtige Schubser zum richtigen Zeitpunkt gereicht, damit ich auf die Fahrbahn stolperte, ein Auto aufgrund des glatten Asphalts nicht rechtzeitig genug bremsen konnte und ich ein paar Etagen höher meine Hausaufgaben hätte machen können.
Mir dieser Gefahr schnell bewusst werdend, zog ich meinen Ranzen vom Rücken und packte ihn am Tragegriff. Als nächstes drehte ich mich mehrere Male schwungvoll im Kreis und erwischte alle Umstehenden, sodass sie es waren, die zu Boden gingen.
So weit, so gut. Das Dumme war nur, dass ich nicht mitbekommen hatte, wie plötzlich eine Lehrerin vom Pausenhof der Quelle des Lärmes vor dem Tor nachgehen wollte und zu uns gestoßen war, als ich mich gerade zu drehen begann …
Fortan hieß es, der dicke Florian greife sogar Lehrer an. Darum wurde ich letzten Endes auf eine andere Grundschule verlegt. In dieser Schule kam ich tatsächlich eine kurze Zeit lang klar, bis die Sache mit den Steinen passierte und mich beinahe meiner Männlichkeit beraubt hätte.
Weißt du, ich habe in meinem Leben schon viele Eltern kennenlernen dürfen und müssen. Gute und weniger gute, schlechte und richtig schlechte, böswillige und grauenvolle. Doch in keinem dieser Fälle ist mir eine Bestrafungsmethode wie deine begegnet. Ist dir eigentlich bewusst, dass selbst Bösewichter so etwas wie ein Gewissen haben, oder zumindest einen Ehrenkodex? Was entbindet dich also davon, dich ab und zu wie ein Mensch aufzuführen?
Ich habe als kleiner Junge dabei zusehen müssen, wie du deine Patienten gequält hast und dafür "Schwester Brutalia" genannt wurdest. Du hast mir unter Androhung von Schlägen immer den Mund verboten und ich nahm es stillschweigend hin. Was sollte ich auch machen? Wo hätte ich hingehen sollen? Es gab keinen Ort, an dem ich sicher gewesen wäre. Wann immer ich den Versuch unternahm, von zuhause fort zu laufen, weil ich spürte, dass ich weg musste, wusste ich irgendwann nicht mehr weiter und kehrte zu dir zurück, oder du hast mich finden lassen.
Aber wenn ich heute den Vorfall mit den Steinen erzähle, dann schütteln die Menschen fassungslos ihre Köpfe und fragen sich, wie eine Mutter so etwas ihrem eigenen Fleisch und Blut antun konnte.
Es begann damit, dass ich mutig wurde. Damit, dass ich intuitiv das Richtige tun wollte. Damit, dass es in der neuen Grundschule zur Pause geläutet hatte.
Ich lungerte auf dem Pausenhof herum und versuchte mich abzulenken. Ich hatte mir kein Buch von zuhause mitgenommen und hatte darum keine Beschäftigung, und mit den anderen Kindern wollte ich nicht spielen. Also lief ich ziellos umher und gelangte dabei hinter das Gebäude. Bereits aus einiger Entfernung hörte ich das Klackern von Stein auf Stein und das Wimmern, das sich mit hässlichem Lachen vermischte. Als ich um die Ecke trat, sah ich dort vier Jungs stehen, die kleine und größere Steine in Richtung Schulgebäude warfen. Doch sie wollten nicht die Mauer treffen.
An der Wand zusammengekauert bangte ein mir bekannter jüdischer Junge um sein Leben. Er hatte bereits einige blutende Wunden und zu seinen Füßen lagen zahlreiche Steine.
Einer der Jungs schickte mich fort, nannte mich "Specki“, und sie setzten ihre Werferei fort. Plötzlich wurde ich laut, schrie sie an und stellte mich zwischen den Judenjungen und die Werfer, sammelte blitzschnell die Steine auf und schmiss sie den entsetzten Jungs entgegen. Ich traf nicht besonders häufig, aber ich traf. Natürlich rannten sie davon wie der Blitz, und der Judenjunge stand mit meiner Hilfe auf, dankte mir und begann zu weinen.
Dem Schulrektor sagten wir nicht, wer die Werfer waren, denn der Judenjunge hatte furchtbare Angst, dass sie sich an ihm rächen würden. Doch solange ich auf dieser Schule blieb, kam es zu keinem Vorfall dieser Art mehr.
Stolz darauf, mich so heldenhaft eingesetzt zu haben, wollte ich meine Tat natürlich umgehend zuhause erzählen. Doch wie sollte ich damals, als kleiner Junge, denn wissen, was genau es bedeutet, wenn die eigene Mutter die NPD wählt? Wie konnte ich denn auch nur im entferntesten ahnen, wie du auf meine Heldentat reagieren würdest?
Ich werde wohl bis zu meinem Tod deine wütenden Augen nicht vergessen, als du nachfragtest, ob ich das ernst meine. Deinen harten Griff, als du mich ins Badezimmer zogst. Deine laute Stimme, als du mir befohlen hast, mich ausziehen. Deine hastigen Bewegungen, als du die lange, spitze Friseurschere aus einem Regal nahmst. Das metallische Geräusch, als du die Schere geöffnet hast und sie an meinem Gesicht hinunter bis hin zu meinen Genitalien führtest. Und als meine noch in Kinderschuhen steckende Männlichkeit in der geöffneten Schere lag, erklang deine Stimme erneut wie Donnerhall in meinen Ohren, dass ich mich gefälligst entschuldigen solle für das, was ich getan habe, weil du ihn sonst abschneiden würdest. Wie ich weinte und dich anflehte. Wie du weiter gedroht hast. Wie ich schließlich nachgab und mich entschuldigte. Wie ich dir versprechen musste, so etwas niemals wieder zu tun. Und das erleichternde Gefühl, als du die Schere, dieses lange, glänzende Monstrum, endlich wieder von mir wegnahmst.
Ich habe dir nie davon erzählt, aber ich habe mein Versprechen von damals bereits unzählige Male gebrochen. Freunde und Bekannte kennen und schätzen mich als jemanden, der seine Versprechen auf Gedeih und Verderb hält, und der Versprechen auch nur dann abgibt, wenn er genau weiß, dass er sie halten können wird.
Doch du zählst nicht. Wenn jedes Mal, bei dem ich einem Menschen helfen kann, mein dummes Versprechen von damals ein wenig mehr beseitigt werden kann, dann bin ich zufrieden.
Du warst den Stress mit mir bald leid. Ich wurde von der zweiten Grundschule geholt, weil ich natürlich auch dort bald als angriffslustiger Schüler galt. Dir wurde empfohlen, mich auf eine Sonderschule zu schicken, weil ich zu gefährlich für eine normale Schule sei und du deinen Job als Erziehungsberechtigte wohl auch nicht kompetent genug machen würdest. Wie recht sie damals doch hatten.
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