Roman
Georg Kustermann
Die schicksalhafte Begegnung zwischen dem Sonnyboy Michael Stadler und der rätselhaften Patrizia Bertram ist der Beginn einer besonderen Beziehung zwischen zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Eine junge Frau, die offensichtlich von einem traumatischen Erlebnis völlig aus der Bahn geworfen wurde und die verzweifelt versucht, sich ins Leben zurück zu kämpfen und ein ehrgeiziger Triathlet, der ihr zunächst fast gegen seinen Willen seine Hilfe anbietet.
Doch je tiefer er in ihre geheimnisvolle Vergangenheit eintaucht, desto mehr wird er von der mysteriösen Unbekannten in ihren Bann gezogen. Als Patrizia dann von einem Tag auf den anderen spurlos verschwindet, beginnt die Suche nach einer Frau, für die er bereits viel mehr als nur Interesse empfindet.
Sie führt ihn auf die Spur eines entführten Fotomodells und eines brutalen Verbrechens, das bereits zwei Jahre vorher seine heile Chiemgauer Heimat erschütterte.
Georg Kustermann, Jahrgang 1962, Vater zweier erwachsener Söhne, lebt und arbeitet mit seiner Frau als Zahnarzt im Chiemgau.
Neben seinen Reisen, die den begeisterten Bergsportler schon in viele entlegene Winkel dieser Erde geführt haben, war Lesen und Schreiben schon immer eine seiner Leidenschaften. „Die tote Zeugin“ ist sein erster Roman.
Die tote Zeugin
Texte: © Copyright 2020 by Georg Kustermann
Umschlaggestaltung: © Copyright 2020 by Verena Schindler
Alle Rechte vorbehalten. Gedruckt in Deutschland. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Weise verwendet oder reproduziert werden, außer bei kurzen Zitaten, die in kritischen Artikeln oder Rezensionen enthalten sind.
Dieses Buch ist eine Fiktion. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, Ereignissen oder Orten ist völlig zufällig.
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Georg Kustermann
Hermann-Löns-Str. 24
83059 Kolbermoor
Erste Auflage: Juli 2020
Es war dieses völlige Fehlen von Mitleid, das ihr Angst einjagte und sie an allem zweifeln ließ, was ihr jemals wichtig gewesen war.
Diese Abwesenheit jeglicher Menschlichkeit, mit der die Frau mit der Waffe in der Hand mitten in das fast schwarze, ausdruckslose Auge des gefesselten Mannes zielte.
Ein Auge, das sie schon damals an ein wildes Tier erinnert hatte, das keinerlei Gefühl preisgab und das nicht die geringste Spur von Angst zeigte.
Sie war einmal eine Frau gewesen, die gelebt und geliebt, gelitten und gelacht hatte.
Nichts davon war jetzt noch übrig, als sie durchlud, und das metallische Geräusch ein nachhallendes Echo im formlosen Raum ihres blanken Hasses hinterließ, während sie über das Korn der Waffe das schwarze Auge wie die Mitte einer Zielscheibe anvisierte.
Sie wollte Angst in diesem Auge sehen. Angst und Schmerz!
Aber in dem Auge, diesem eiskalten Auge, war keinerlei Regung erkennbar. Genauso wenig wie in dem Körper, der die Waffe hielt. Ihrem eigenen Körper.
Das einzige, das sie spürte, war die gleichgültige Erkenntnis, dass da nichts mehr war.
Kein Mitleid, keine Trauer, kein Leben.
Nur die Angst, die sie in dieses Auge verbannt sehen wollte, damit ihr eigenes Herz wieder frei sein konnte.
Und dieser Hass.
Doch schlimmer als der Hass in diesem Traum und die sich verdichtende Ahnung tief in ihrem Innersten, dass sie selbst bald nur noch Hass sein würde, war der Albtraum, in welchem sie gefesselt vor ihm lag.
Da drückte sie ab …
"Mein Hass hat mir selbst immer mehr geschadet, als demjenigen, den ich hasste"
Max Frisch
"An den Scheidewegen des Lebens
stehen keine Wegweiser"
Charlie Chaplin
Cannobio, Westufer Lago Maggiore, 31. August
Michael Stadlers Lungen brannten und sein Mund war wegen seiner hohen Atemfrequenz wie ausgetrocknet. Seine Oberschenkel glühten wie Feuer und sein Herz pumpte mit über 180 Schlägen pro Minute Blut durch seinen mit Endorphinen überschwemmten Körper. Sein Puls hämmerte gnadenlos hinter seinen Schläfen und die schweren, kalten Tropfen des herabprasselnden Regens vermischten sich mit seinem Schweiß zu einem Gemisch, das in Strömen über sein Gesicht lief.
Der Wolkenbruch, der vor etwa einer Stunde das Tal wie ein ausgehungertes Raubtier überfallen hatte, tauchte die Berghänge in ein konturloses, milchiges Grau. Der schmale Bergpfad unter seinen Schuhen, aus welchen das Wasser bei jedem Schritt herausschmatzte, war kaum zu erkennen. Die Luft war hier auf fast eintausendsechshundert Meter über Meereshöhe für einen August ungewöhnlich kalt und tiefhängende, zerfetzte Regenwolken umwoben die felsigen Gipfel der umliegenden Berge wie ruhelose Gespenster ihre Grabstätten.
Aber weder Kälte noch Nässe drangen richtig in sein Bewusstsein vor. Er bewegte sich mittlerweile wie in einem Tunnel und hatte diesen meditativen Zustand erreicht, wo Geist und Körper beginnen, sich voneinander zu lösen. Seine Wahrnehmung schwebte mit eigenartiger Leichtigkeit etwas über ihm und betrachtete mit fast distanziertem Interesse dieses einen Meter neunzig große Kraftpaket aus Muskeln und Sehnen unter ihm, das sich wie eine perfekte Maschine allem Unbill zum Trotz unaufhaltsam weiter den Berg hinaufarbeitete.
So wie ein Zuschauer im Kino verfolgte er den Kampf dieses dampfenden Körpers, sah ihn keuchend über einen Felsabsatz springen und erschrak fast, als er plötzlich wie festgefroren stehen blieb. Wie von einem unwiderstehlichen Riesenmagneten angezogen, zwang es ihn in diesen Körper zurück, in einem fast schmerzhaft hellen Aufblitzen wurden sein Körper und sein Geist wieder eins. Dann starrte er auf etwas, das es hier oben am Berg eigentlich nicht geben durfte. Das Kinoprogramm hatte gewechselt und auf eigenartige Weise war er in einer Szene von John Ronald R. Tolkiens Herrn der Ringe gelandet.
Vor ihm saß: Gollum!
Tropfnass, wie von wabernden Nebeln aus Mordor umzogen, hockte der, zusammengekauert und die dürren Arme um seinen eigenen Oberkörper geschlungen, unter einer überhängenden Felswand, wo er notdürftig Schutz vor dem prasselnden Regen gesucht hatte und starrte ihn mit riesengroßen Augen an. Entsetzen spiegelte sich auf seinem Gesicht, so als wäre Michael der Herr der Nazgul und im Begriff, ihn vor Sauron zu schleppen.
Irgendwie war das alles nicht real. Vor Anstrengung noch heftig keuchend wischte er sich mit einer Hand über seine brennenden Augen, kniff sie kurz zusammen und riss sie dann wieder weit auf. Aber alles blieb, wie es war. Gollum war immer noch da.
In diesem Augenblick hatte die Achterbahn der Gefühle, die ihn schon während der letzten zehn Monate ständig von oben nach unten katapultiert hatte, einen weiteren skurrilen Höhepunkt erreicht.
Vor gut drei Jahren hatte er kurz entschlossen sein Architekturstudium auf Eis gelegt, um alles auf die Karte Leistungssport zu setzen. Der dreiundzwanzigjährige Student hatte ohne Wenn und Aber alles seiner großen Leidenschaft, dem Triathlon untergeordnet. Lange Zeit hatte es nicht so ausgesehen, als ob sich diese Entscheidung wirklich auszahlen würde, aber im vergangenen Jahr war der Achterbahnwagen endlich ganz oben angekommen. Nach monatelangem, knochenhartem Wintertraining waren seine Leistungen in der abgelaufenen Saison regelrecht explodiert und er hatte nach dem Punktesystem der World Triathlon Corporation endlich die ersehnte Qualifikation für den legendären Ironman auf Hawaii geschafft. Wie besessen hatte er daraufhin begonnen, auf ein einziges Ziel hin zu trainieren. Er wollte die 3,8 km Schwimmen, 180 km Radfahren und den abschließenden Marathonlauf durch die Lavafelder von Kona mit einem Spitzenplatz absolvieren und sich damit in der Liste der sogenannten Eisenmänner verewigen.
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