Es war kein Walrat, geschweige denn Ambra — aber es würde trotzdem einen anständigen Preis bringen.
Aufgrund seiner Position als Schiffszimmermann blieb Charles Philip Plumpton das blutige Geschäft des Abspeckens erspart. Seine vordringlichste Aufgabe nach Vollendung einer Jagd bestand darin, Boote und Riemen auf Schäden zu untersuchen und diese gegebenenfalls zu beheben. Das Auslösen und Reinigen des Fischbeins von Haut- und Speckresten überließ man Spezialisten, die es sofort fachgerecht zu lagerfähigen Rohlingen verarbeiteten.
Was niemand erspart blieb, war der Gestank beim Trankochen. Die Speckschicht macht gut die Hälfte des Körpergewichts eines großen Wales aus. Bei einem 50-60 Tonnen schweren Tier fallen demnach rund 30 Tonnen Speck an, die zu Tran verkocht werden wollen. Als wäre der Geruch des frischen Walöls nicht allein schon unangenehm genug, befeuerte man schließlich auch die Tranöfen selbst mit den Überresten des Kochprozesses (Brennholz war auf hoher See ein rares Gut!), Grieben von verkrustetem, ausgemergeltem Walspeck, die das Schiff mit einem beißenden, stark rußenden Rauch überzogen, der die Augen tränen und das Husten zu einem ständigen Begleiter werden ließ.
Tage vergingen, bis endlich der letzte Kessel Öl erkaltet, in Fässer gefüllt und verladen, das Deck von der schmierigen Schicht aus Blut, Fett und Ruß befreit war.
Für die Mannschaft der ‚Eleanore’ gehörte dies vorerst der Vergangenheit an. Wochen war es her, seit sie den letzten Wal ihrer diesjährigen Reise verarbeitet hatten. Die Decks glänzten, als sei das Schiff gerade erst vom Stapel gelaufen. Zufriedenheit machte sich breit, Zufriedenheit mit dem Ertrag der Reise, aber vor allen Dingen darüber, dass keiner von ihnen ernsthaft verletzt, geschweige denn getötet wurde. Eins der Boote hatte beträchtlichen Schaden erlitten, als es vom Schwanz des Grönländers erwischt wurde. Zum Glück kamen jedoch alle Insassen mit dem Schreck und ein paar Schrammen davon.
Am Abend würden sie daheim bei ihren Familien sein. Und im nächsten Jahr — so waren sie sich einig — würden sie erneut auf große Fahrt gehen.
Zuletzt hatten sie zwei Tage im Hafen von Kingstown auf der Insel St. Vincent gelegen. Ein Drittel ihrer Ladung konnten sie dort bereits veräußern. Vor einiger Zeit war der Markt für Fischbein vorübergehend eingebrochen, als das Damenkorsett, damals das wichtigste Produkt, für das die flexiblen Stangen in Massen eingekauft wurden, plötzlich aus der Mode kam. Aber mittlerweile hatte sich die Lage entspannt. Nun waren es die Männer, die das Korsett für sich entdeckt hatten! Die feinen Herren und Salonlöwen aus London und Paris verspürten auf einmal das Bedürfnis, ihre Schmerbäuche vor der (Damen-)Welt zu verbergen. Die eitlen Gecken der hohen Militärs taten es ihnen gleich. Selbst in den fernen Kolonien wollten sie nicht auf ein schlankes, mondänes Erscheinungsbild verzichten. Manufakteure, die sich auf den Inseln niedergelassen hatten, kauften daher wieder verstärkt Fischbein, um der steigenden Nachfrage nach Herrenkorsetts nachzukommen. Sie zahlten gut, konnten ihre Ware dennoch preisgünstig feilbieten, da sie den kostspieligen Import der fertigen Produkte aus England oder Frankreich umgingen. Die karibische Sonne trug das Ihre dazu bei, dass der Bedarf an Sonnenschirmen für die Töchter und Gemahlinnen der Kolonialoffiziere niemals schwand. Im Vergleich zum Vorjahr war der Preis für Fischbein sogar noch gestiegen. Der Kurs für Waltran blieb stabil. Günstiges Lampenöl und Schmiermittel wurden immer gebraucht. Teure Walratöle und –kerzen konnten sich die einfachen Leute ohnehin nicht leisten.
Aber nicht die guten Geschäfte, Spekulationen über die Höhe des eigenen Anteils oder die Vorfreude auf das Wiedersehen mit den Lieben daheim waren das vorherrschende Thema der Seeleute, als die ‚Eleanore’ an diesem Morgen in Kingstown den Anker lichtete.
Es war eine junge Frau.
Sie war etwa Mitte Zwanzig. Kurz vor dem Auslaufen war sie in Begleitung des Kapitäns an Bord gekommen. Sie trug Männerkleidung! Hosen und Stiefel! Ihren rechten Handrücken zierte die Tätowierung eines merkwürdigen Vogels mit ausgebreiteten Flügeln. Seit man vor gut zwei Stunden in See gestochen war, hatte sie die Kajüte des Käpt’ns nicht verlassen.
„Ich sage euch ... das ist die Tochter von Neckbone!“
„Bist du sicher?“
„Aye!“
„Neckbone?“
„Aye!“
„Habt ihr die Tätowierung gesehen?“
„Wer ist Neckbone?“
Die drei Männer starrten Charlie Plumpton fassungslos an.
Sie standen auf dem Vorschiff der ‚Eleanore’. Da es kaum noch etwas zu tun gab, wollte er noch einmal das beschädigte Fangboot in Augenschein nehmen, das man dort festgezurrt hatte.
„Teufel auch, Charlie!“ schnaubte einer der Harpuniere, den alle bloß Spunk nannten. „Wo lebst du eigentlich?“
„Aye!“ pflichtete ihm der alte Abraham bei.
„Neckbone Willis ist der gefährlichste Pirat in diesen Gewässern, Mann!“ meldete sich der Dritte im Bunde, ein Kreole namens Jerome.
„Nie von ihm gehört.“
„Kruzifix, Charlie!“ Spunk schüttelte mit dem Kopf. „Ihr habt eine Taverne zu Hause! Wie kann man da nicht von Neckbone gehört haben?“
„Aye! Mit bloßen Händen hat er mal einem Mann die Wirbelsäule rausgerissen!“ setzte Abraham hinzu.
„Wirklich?“
„Aye! Lass also besser die Finger von der Kleinen, mein Junge!“
„Und ihr seid sicher, dass sie die Tochter von diesem Piraten ist?“
„Ja, Mann!“ nickte Jerome. „Die Tätowierung, Mann!“
„Kein Zweifel!“ sagte Spunk.
„Man sagt auch“, begann Abraham in einem bedeutungsvollen Flüsterton, „man sagt ... Neckbone habe sie in einem heidnischen Ritual mit einer Voodoo-Priesterin gezeugt! Ein Kind des Teufels!“
„Ja, Mann! Böses Omen, Mann!“
Charlie Plumpton wusste nicht recht, was er von alledem halten sollte. „Wenn sie tatsächlich die Tochter von diesem Neckbone ist ... wollt ihr damit sagen, der Käpt’n steht mit Piraten im Bunde?“
Abraham lächelte ein schiefes, zahnloses Lächeln. Dann legte er Charlie den Arm um die Schultern.
„Lass mich so sagen, mein Junge“, sprach er leise weiter. „Viele Jahre fahre ich jetzt schon mit dem alten Boles zur See. Noch nie sind wird dabei von Piraten...“
„Still!“ zischte Spunk plötzlich.
„Nichts zu tun, Gentlemen?“ erklang daraufhin die Stimme des Kapitäns, der gerade an Deck seine Runde drehte.
Die Männer schwiegen.
„Kommt schon, ihr alten Waschweiber!“ knurrte er schließlich. „Haltet Mr. Plumpton nicht von der Arbeit ab!“
Wortlos verzogen sich die Männer.
Einen Moment lang fixierte der Kapitän Charlie mit einem scharfen Blick. Dann wandte er sich um und setzte seine Runde fort.
Charles Philip Plumpton richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Boot. Er löste einige der Halteseile und schob es ein wenig von der Backbordreling fort, an der es festgezurrt war, um es besser inspizieren zu können. Der Bug war fast völlig zerstört, ein einziges, großes Loch. Zahlreiche Risse in den Planken zogen sich weit in den Bootskörper hinein. Viele davon mussten ausgewechselt werden. Schnell war klar geworden, dass man die Reparatur nicht auf See durchführen konnte. Daher hatte man es lediglich an Deck festgemacht und sich für den Rest der Fahrt mit den beiden übrigen Booten begnügt. In Gedanken erstellte Charlie eine Liste der Arbeiten, die nötig sein würden, um es für die nächste Saison wieder seetüchtig zu machen. Dies würde seine erste Aufgabe nach ihrer Heimkehr sein.
Schritte auf dem Vordeck ließen ihn aufblicken. Es war die junge Frau. Ohne ihn anzusehen, ging sie auf den Bugspriet zu. An der Reling blieb sie stehen und starrte auf den Horizont. Ihr weites Hemd flatterte im Wind, ebenso die Strähnen ihres langen, leicht gelockten, rabenschwarzen Haars.
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