Als es ein drittes Mal klingelt, zucke ich zusammen. Fröstelnd stehe ich am Fenster, unbewegt, und starre in die Dunkelheit. Die Lichter auf dem Rhein ziehen meinen Blick an. Langsam werde ich wieder ruhiger und schließlich zieht es mich zurück ins Bett. Inzwischen sind zwei Stunden vergangen. Noch eine Weile grüble ich über die vergangenen Tage nach, bevor ich langsam in den Schlaf gleite.
Der Himmel scheint es nicht gut mit mir zu meinen. Als ich am nächsten Morgen aus dem Haus gehe, tröpfelt es langsam, aber stetig aus grauen Wolken. Ich verfluche meine Entscheidung, den Wagen auf der anderen Rheinseite geparkt zu haben, und mache mich auf den Weg zur Fähre. Den Schirm fest in der Hand, die Handtasche unter den anderen Arm geklemmt, schreite ich forsch aus und bin schweißgebadet, als ich an der Fähre ankomme. Zum Glück legt sie gerade an, so dass ich kurz darauf an Bord gehen kann.
Der Fahrpreis für Fußgänger ist gering, trotzdem hoffe ich, dass sich der ganze Aufwand gelohnt hat.
Auf der anderen Seite steht mein Auto, gänzlich unbeschadet.
Erleichtert steige ich ein. Insgesamt brauche ich dennoch die dreifache Zeit, um zur Arbeit nach Wiesdorf zu gelangen, was diese Lösung auf die Dauer unpraktikabel macht.
Freitagnachmittags gehen wir mit einigen Kollegen nach der Arbeit immer etwas trinken. Heute ist auch mein Abteilungsleiter Jens Odenthal dabei.
Kurz nach fünf sind wir in unserer Stammkneipe angekommen, unweit des Werks und für uns alle auf dem Heimweg gelegen.
Als wir unser Kölsch vor uns stehen haben, beteilige ich mich nicht am Gespräch der anderen. Ich bin der Gesellschaft wegen mitgegangen und um nicht allein zu Hause zu sitzen. Mein erstes Wochenende als Single.
„Was war denn in dieser Woche mit Ihnen los?“ Herr Odenthal schaut mich prüfend von der Seite an.
Was soll ich ihm erzählen?
„Es gab privat ... einige Veränderungen“, weiche ich schließlich aus.
„Trennung?“
Erst bin ich mir nicht sicher, dass ich ihn richtig verstanden habe, so leise hat er gesprochen. Ein Seitenblick zeigt mir jedoch, dass er mich immer noch mustert.
Ich nicke leicht. Da ich nichts sage, ist klar, dass ich nicht darüber sprechen möchte. Ich weiß zwar, dass er, gerade geschieden, ein verständnisvoller Gesprächspartner sein kann. Aber alles ist noch so frisch, dass ich erst einmal selbst Ordnung in meinen Gedanken und Gefühlen schaffen muss.
Als sich die Runde auflöst, ergibt es sich zufällig, dass Herr Odenthal und ich gemeinsam zu unseren Autos gehen. Ich will mich gerade verabschieden, als mein Blick auf den linken Vorderreifen meines Wagens fällt.
Oh nein, nicht schon wieder. Hektisch umrunde ich mein Auto, aber es ist nur ein platter Reifen. Zufall?
„Sie haben einen Plattfuß. Gibt es noch ein richtiges Reserverad, oder haben Sie dieses Pannenset, das in den neuen Fahrzeugen inzwischen zum Standard gehört?“
„Ein richtiges Reserverad.“
„Zum Glück.“ Er hat sich seine Hemdsärmel aufgekrempelt und hockt neben dem platten Reifen. „Mit dem Dichtungsset hätten Sie hier schlechte Karten. Der Reifen ist durchstochen.“
Ich stehe vollkommen konsterniert neben meinem Fahrzeug, nein, neben mir.
„Es ist nur ein Reifen, kein Weltuntergang. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich mich um den Reifenwechsel kümmern. Geben Sie mir die Schlüssel?“
Mühsam versuche ich mich zu fassen, wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Währenddessen wechselt mein Abteilungsleiter im weißen Hemd das Rad aus.
„Es ist nicht der erste Reifen in dieser Woche.“
Überrascht unterbricht er seine Arbeit.
„Am Mittwoch und Donnerstag waren alle vier Reifen morgens durchstochen. Das ist der neunte.“ Ich verstecke das Zittern, das mich überkommt, indem ich nach einem Taschentuch krame und mir umständlich die Nase putze. Herr Odenthal arbeitet schweigend weiter, was ich ihm hoch anrechne.
Nachdem er den kaputten Reifen in meinem Kofferraum verstaut hat, schaut er sich suchend um.
„Dachte ich es mir doch. Sehen Sie die Überwachungskamera? Kommen Sie, wir werden nachfragen, ob wir uns den heutigen Abend anschauen können. Wie ich Jupp kenne, wird es auch in seinem Interesse sein, dass der Täter gefasst wird.“
Jupp ist der Wirt. Seinen Nachnamen kenne ich nicht, aber seit ich mit den Kollegen freitags hier einkehre, nenne auch ich ihn Jupp.
Nach dem Abschließen des Wagens bekomme ich meine Schlüssel zurück und wir gehen gemeinsam wieder hinein. Ich bin dankbar, einfach folgen zu können, zur Theke, wo Herr Odenthal ein kurzes Gespräch mit dem Wirt führt, dann in das Büro. Jupp hantiert einen Moment, was er macht, kann ich von der Tür aus nicht sehen, dann schiebt er uns sein Laptop herüber.
„Hier sind die Aufnahmen von heute. Ich muss wieder hinter den Tresen.“ Er wünscht uns noch Glück und lächelt mir aufmunternd zu.
Gemeinsam suchen wir die Zeit heraus, zu der wir hier angekommen waren. Ich bin irritiert, mich vom Parkplatz weg zum Gebäude gehen zu sehen.Die anderen kommen an und dann passiert eine Weile gar nichts. Schließlich schlendert ein Mann auf den Parkplatz und schaut sich unauffällig um. Er verschwindet neben meinem Auto. Als er sich aufrichtet, schaut er einen Moment genau in die Kamera. Klaus.
„Damit wird die Polizei ja wohl etwas anfangen können.“ Die Stimme meines Abteilungsleiters klingt hochzufrieden. Als er sich zu mir umdreht, stutzt er.„Sie kennen den Mann?“
Wie betäubt nicke ich langsam. Schließlich reiße ich mich von dem Bild auf dem Monitor los.
„Es ist mein Exfreund Klaus Weber.“
„Was wollen Sie jetzt tun? Wollen Sie ihn anzeigen?“
„Die Anzeige läuft. Ich war gestern und vorgestern bei der Polizei.“
„Das ist ja ein klasse Bild!“ Jupp war unbemerkt zu uns ins Büro gekommen. „Ich kann das auch ausdrucken, aber besser ist wohl eine Kopie.“ Wieder hantiert er und kurze Zeit später präsentiert er mir eine DVD.
„Mädchen, du siehst aus, als könntest du einen Schnaps gebrauchen. So blass, wie du bist.“
„Danke nein, ich muss ja noch fahren.“
„Dann einen Kaffee?“
„Es geht schon, danke.“
Zweifelnd mustert er mich. „Sie kennen den Mann?“ Er wechselt fließend zum „Sie“ über.
Dass mich beide Männer jetzt mitfühlend anschauen, ist kaum zu ertragen. Wieder schießen mir die Tränen in die Augen.
„Mein Ex“, bringe ich schließlich heraus. „Er hat mir angedroht, dass ich in einer Woche angekrochen käme. Ich hätte im Traum nicht damit gerechnet, dass er anfängt, Terror zu machen.“Wieder krame ich nach einem Taschentuch.
„Neun Reifen und ...?“ Herr Odenthal hat zwischen den Zeilen gelesen.
„Telefonanrufe, nächtliches Klingeln“, jetzt fügt sich alles zu einem Bild.
Dieses Schwein!
Mit der DVD in meiner Handtasche gehen wir wieder zu meinem Auto, als mein Handy sich meldet.
„Ja?“
„Hallo, was hältst du davon, wenn wir heute Abend ausgehen?“
„Ich werde nie mehr mit dir ausgehen, Klaus.“ Leise, aber mit Nachdruck spreche ich diesen Satz.
Herr Odenthal neben mir hebt den Kopf und verlangsamt synchron mit mir die Schritte.
„Lass mich in Ruhe!“
„Naja, ein paar Tage bleiben ja noch, bis die Woche herum ist.“ Die Stimme von Klaus klingt so selbstzufrieden, dass ich mein Vorhaben, ihm nichts von der DVD zu erzählen, fallen lasse.
„Damit du’s weißt, ich habe eine schöne Aufnahme von dir, von der Überwachungskamera.“
„Die was zeigt? Dass ich mir meinen Schuh zufällig neben deinem Auto zugebunden habe? Mach dich nicht lächerlich.“
Könnte er tatsächlich so einfach davonkommen?
„Ich werde dich heute Abend besuchen und dann sprechen wir noch einmal über alles.“
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