Du musst mich nicht mehr Sir nennen.“ sagte der besorgte Mann.
„Ja, natürlich Thomas. Ich bin das von der Arbeit einfach gewohnt.“
Nach ein paar hundert Metern erreichten sie eine hell leuchtende Straße. Auf einem herkömmlichen Straßenschild stand: „Herzog-Andre-Straße“.
Überall waren dort Laternen am Rande des Bürgersteigs. Egal wo man hinblickte, es war ein Geschäft zu sehen. Ein Fitnessstudio, eine Tankstelle ein kleines Bistro, ... Sie durchquerten die lebhafte Straße langsam. Am Ende der Straße stand ein Getränkeautomat. Jeder Laden war geschlossen. Vermutlich waren die Ladenbesitzer auch alle wegen ... nach Berlin gefahren.
Überall hingen auf den Fassaden selbstgemachte Poster mit einem Phönix-Logo drauf.
„Die Flamme lodert!“ „Wir werden sie einäschern!“ „Bald erzählen wir uns Lagerfeuer-Geschichten.“
Egal wo man hinsah, an jeder erdenklichen Stelle hingen diese Poster.
Die beiden Männer wurden noch trauriger als vorher.
Sie kamen an einer Pizzeria vorbei. Auf dem Dach war ein rot-leuchtendes Schild: „Hast du Hunger? Dann bist du hier bei der richtigen Nummer!“
Doch auch dieses Geschäft hatte geschlossen.
„Wir müssen uns beeilen. Sie friert langsam.“
Die Nacht war sehr Kühl und so dunkel, dass man tausende von Sternen am Himmel sehen konnte. Auch schwarze Katzen sammelten sich unter dem Licht des Vollmondes. Ein weiteres schlechtes Omen für die Verschwörungstheoretiker. Nun erreichten die Männer ein Viertel, dass deutlich ärmer aussah, als das vor dem schönen Park. Hier war eine ganz andere Stimmung. Das einzige, was wirklich Licht spendete, war der klare Nachthimmel. Nirgendwo hingen Poster, obwohl sie sich in der Herzog-Andre-Straße nur so gehäuft haben. „Das ist sie, die Momsenstraße.“ sagte Thomas. „Hier leben sie also, die Müllers.“ „Ja, Hausnummer 4.“.
Die beiden Männer standen vor einem weißen Haus mit einem roten Ziegelsteindach. Durch das Fenster sah man einen Mann mit einem aufgeblähten Bierbauch in einem befleckten Tanktop auf dem Sofa schlafen. In seiner Hand hielt er eine leere Bierflasche.
Mike legte seine Hand auf die Schulter seines Freundes. „Es ist soweit“, sagte er.
„Ich ... ich ... kann das ... kann das einfach nicht.“ stotterte der Mann mit dem Baby auf dem Arm vor sich hin. „Sie hat etwas besseres verdient als das!“ fügte er weinerlich hinzu.
„Aber ich weiß ja, dass es sein muss. Wenn ihr etwas passiert, würde ich mir das nie verzeihen.
Ich habe schon genug angerichtet.“ ...
„Geben sie sich nicht die Schuld, für das was passiert ist. Keiner von uns hätte das kommen sehen können.“ unterbrach Mike seinen ehemaligen „Sir“.
Thomas sprach eine paar Worte zu dem Baby,
so als würde es jedes verstehen.
„ Lina, das tut mir so leid, aber es muss sein. Nur hier weiß ich, dass er dich nicht findet. Vergiss niemals, du wirst für Mama und mich immer
Die Klagende, die die Freiheit lebt bleiben.
Wir sind immer hier drinnen.“ sagte er zu seiner Tochter, während er ihre Hand an sein Herz drückte.“ Er legte das Baby vor die Haustür.
Die Tränen aus seinen Augen liefen ihm langsam die Wange herunter.
„Ich werde auf sie aufpassen. Das verspreche ich ihnen.“ sagte Mike.
Nach dem Abschied verschwand Thomas und wurde nicht mehr gesehen.
Keiner weiß, was mit ihm passiert ist.
Und auch von Mike war keine Spur.
An einem dunklen Abend 2004 begann die Geschichte von Lina Charlsen .
Erstbeste Freundinnen
Im Zentrum von Langenhorn war sie, die Langenhorner-Gesamtschule . Ein großes Gebäude mit vielen Räumen. Aber ein zweites Stockwerk, gab es nicht. Dafür aber sehr viele rechteckige Fenster. Neben dem Schulgebäude stand eine ganz kleine Sporthalle, in der gerade mal so eine Klasse reinpasste. Es gab nur einen Umkleideraum, weshalb man Jungs und Mädchen immer in zwei Gruppen einteilen musste. Neben ganz vielen Klassenzimmern gab es auch noch einen Computerraum, indem die Hälfte der PCs nicht mehr richtig funktionierten.
Und für Mädchen und Jungs jeweils einen ekelerregenden Toilettenraum. Die Putzfrauen mussten sich mit den Lehrerkräften ein Zimmer teilen. Das Theater war der größte Stolz der Schule.
Die Langenhorner-Gesamtschule, ein Ort, an dem sich alle möglichen Arten von Menschen tummelten. Die Sportler, die jeden zweiten Tag ins Fitnessstudio gingen, um nächstes Mal gegen die Bredstedter-Gesamtschule im jährlichen Basketball-Turnier zu gewinnen. Daneben gab es auch die Künstler . Entweder haben sie das Theaterstück aufgeführt, eine neue Schulhymne komponiert oder Bilder für die Pausenhalle gemalt.
Alles außer Bücher schreiben, ich meine,
wer macht den auch schon so was?
Neben ihnen gab es dann aber auch noch die Mobber. Das waren die, mit denen man sich besser nicht anlegen sollte. Es sei denn, man ist scharf darauf einen Orsi-Kakao zu trinken.
Orsi war die Spezialität der Langenhorner-Gesamtschule.
Ein Kakao, der nicht nach Kakao schmeckte.
In der Cafeteria zahlte man 20 Cent für einen Liter. Es gab auch das Gerücht, dass man Orsi ohne Milch zubereitet. Stattdessen mischte man das längst abgelaufene Kakaopulver mit dem Wasser, das die Putzfrauen nach ihrer Reinigung vom Vortag noch übrig hatten. Doch das waren natürlich nur Gerüchte .
Klingt nach einem aufregenden Montag, oder?
Wie auch sonst jeden anderen Tag waren alle Schüler und Schülerinnen in der Mittagspause damit beschäftigt ihre Socialmedia-Startseite zu aktualisieren, vom Lehrer ermahnt zu werden oder mit ihren Freunden in der Cafeteria einen Orsi zu trinken. Ein ganz normaler Tag in der Schule, dachte Lina sich, als sie durch die dreckigen Flure lief.
Und wie auch sonst jeden anderen Tag, konnte Philipp es nicht lassen, ihrer Schwester auf die Nerven zu gehen. Durch seine stetigen Bemerkungen war die Pause meist schlimmer als der Unterricht selbst. Es gab keinen Ort auf dem ganzen Gelände, an dem sie Ruhe von ihm hatte. Damals in der Grundschule konnte sie wenigstens noch zwischen den Gebüschen Zuflucht suchen. Doch jetzt war sie seinem Gelaber schutzlos ausgeliefert.
Sie ging weiter durch die Flure, vorbei an den mit erotischen Stickern beklebten Spinden. Eigentlich war Lina doch ziemlich besonders, denn während andere Mädchen in ihrem Alter durch die ganze Schule liefen, um ihren Traumprinzen zu sehen,
lief sie durch die ganze Schule um den Troll , der den Prinzessinnen Turm bewachte, zu entkommen.
Auch wenn Lina eine sehr dünne Statur hatte und nichts mit irgendwelchen Kampfsportarten anfangen konnte, war sie sich sicher, dass sie so einen dürren Typen wie Philipp jederzeit hätte um pusten können. Doch sie wollte nicht auf ihn losgehen. Erstens war sie für so einen Schabernack zu alt geworden und zweitens hatte sie das schon mal vor ein paar Jahren gemacht. Philipp hatte Lina provoziert, da hat sie zu gehauen. Er sagte ihr, dass ihr Vater nur abgehauen ist, weil er nicht so ein Mädchen wie Lina großziehen wollte.
Das mit dem leichten Umpusten galt aber nicht für seine Freunde Janko und Helge. Die waren zwar strohdumm, hatten aber einen sehr großen und massiven Körperbau.
Helge hatte lange, fettige Haare und auch wenn sie so selten wie möglich selber den Mund aufmachten, wusste jeder von der 5. Klasse bis zu den Abschlussjahrgängen, dass die beiden Elftklässler komplett vergilbte Zähne hatten.
Und Linas Glück entsprechend, folgten die beiden Übelriechenden Philipp natürlich auf Schritt und Tritt überall hin. Manchmal hätte sie ihr, wenn auch nicht sehr liebevoll geschmiertes, Pausenbrot mit Erdbeermarmelade und Honig darauf verwettet, dass Janko und Helge ihn sogar den Hintern nach dem Toilettengang abputzen würden.
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