Ohne ein Wort zu sagen, hatte Philipp den wundesten Punkt in dem Herzen seiner Schwester getroffen. Es war nicht nur eines von Philipps komischen „Nih Nih“-Geräuschen, an die Lina sich schon lange gewöhnt hatte, es war ein sehr verletzendes Geräusch. Dieses Schmunzeln bedeutete: „Du nennst sie Mama? Du bist keine von uns!“ und jeder an diesem Frühstückstisch wusste das, auch wenn es keiner aussprach.
Die Wahrheit ist nämlich, dass Lina eigentlich keine Müller war.
Nachdem sie gerade mal ein Monat alt geworden war, wurde sie von Katrin Müller, der Schwester ihrer Mutter, adoptiert. Linas Vater war ein nichtsnutziger Bauer, der nach ihrer Geburt das Land verlassen hatte und ihre Mutter, genauso erfolglos wie ihr Mann und genauso gewöhnlich wie ihre Tochter, starb bei einem Autounfall.
Das war die Geschichte der Familie Charlsen.
Oder zumindest die Version, die Familie Müller ihr erzählt haben. Lina wollte das nicht glauben,
doch ihr blieb keine andere Wahl.
Nach einer einminütigen Stille unterbrach Katrin das Schweigen. „Philipp, mein Schatz, bist du soweit?
Die Schule fängt gleich an.“ Philipp lief noch schnell ins Badezimmer. Währenddessen betrachtete Lina wieder einmal ihre Halskette. Sie hatte eine Herzform und war das einzige, was ihr von ihren Eltern noch geblieben ist. Ein Foto gab es nicht. Nirgendwo waren Bilder von ihren leiblichen Eltern. Lina wusste gar nicht,
wie ihre Eltern überhaupt aussahen.
Nur einen kurzen Text auf der Rückseite des Anhängers gab es. Dort stand: Lina Charlsen bedeutet: „ Die Klagende, die die Freiheit lebt. “
Und auch wenn das sehr kitschig klang, liebte Lina diese paar Wörter über alles. Sie hatten eine viel größere Bedeutung, als die tausend Beleidigungen, ihres Bruders . Doch trotzdem durchlebte sie denselben Gedanken immer und immer wieder: „Klagend und Frei. Ich habe mehr als nur meinen Nachnamen verloren.“
Währenddessen betonte Herr Müller ein weiteres Mal seine Gutenachtgeschichte . „Wir befinden uns im Ausnahmezustand! Überall da draußen sind die Anoroc-Viren. Vergesst nicht genügend Abstand zu halten. Vor allem du, Lina, wenn du mir diese Monster ins Haus bringst, werde ich dich persönlich zu deiner Mutter bringen!!“ Er legte seine Foto-Zeitung auf den Wohnzimmertisch, stellte den Fernseher an und lauschte weiter den Nachrichten über Anoroc. Über was denn auch sonst, schließlich haben die Medien alle weiteren Geschehnisse verstummen lassen.
Während Philipp mit gegelten Haaren vom Badezimmer raus stolzierte, versuchte Lina sich in Bewegung zu setzten, obwohl sie wusste, dass ihr ein weiterer Schultag voller Mobbing erwarten würde. Sie verhielt sich zwar so normal wie möglich und versuchte nie aufzufallen oder herauszustechen, aber Philipp tat alles, was ihm möglich war, um ihr das Leben zur Hölle zu machen.
Nachdem Philipp und Lina das Haus verlassen hatten, hörten sie noch das Fluchen von Herr Müller, lautstark wie immer, aus der Stube. Aber auch aus den anderen Häusern der Nachbarschaft hörte man die Aufregung der empörten Leute. Eigentlich verstanden die Nachbarn der Momsenstraße sich nicht so gut miteinander, doch diesmal hatten sie etwas, worüber sie sich alle zusammen aufregen konnten. „Wie kann man nur so dumm sein! Das können die Politiker doch nicht ernst meinen!! Lockerungen?!
Wir brauchen strengere Maßnahmen!“
Um die Verbreitung der tödlichen Anoroc-Viren einzudämmen, gab es bestimmte Verbote.
Diese sollten in Kürze jedoch wieder gelockert werden.
Für die normalen Menschen war es nur eine Grippewelle. Doch die, die jegliche Aufregung in ihrem Leben verloren haben, sprachen von einer Katastrophe, weit schlimmer als der 2. Weltkrieg. Die Politiker wollten ihre Wähler nicht verlieren und taten das, was diese verzweifelten Menschen gefordert haben, dachte Lina voller Überzeugung.
Egal wie oft ihr Vater sie noch anschreien würde.
Lina hatte nie voller Zorn über Politiker geflucht. Dennoch machte diese Situation sie traurig.
Niemand darf sich außerhalb von Schule und Arbeit mehr mit anderen Menschen treffen, jeder muss an fast allen Orten in der Öffentlichkeit Mundschutz-Masken tragen und fast alle anderen Tätigkeiten, die sonst für glückliche Stimmung gesorgt haben, waren verboten. Es entstanden leere Straßen und stille Spielplätze. ...
Bevor Lina und Philipp ihre schlichten, weißen Mundschutz-Masken aufzogen, in den Schulbus einstiegen und sich ihre Wege zwischen Beliebt und Verachtet trennten, gab Philipp ihr noch ein paar Worte mit für den Schultag.
„Du kannst dich kleiden wie ich, du kannst so sein wollen wie ich und du kannst deine Tante „Mama“ nennen, aber merk dir eine Sache.
Du bist nicht wie wir!“
Die Klagende, die
die Freiheit lebt
Linas leiblicher Vater, Thomas Charlsen, war ein nichtsnutziger Bauer, der nach ihrer Geburt das Land verlassen hat und ihre Mutter, Amanda Charlsen war eine erfolglose und gewöhnliche Frau, die bei einem Autounfall gestorben ist.
Das war die Geschichte, die Familie Müller Lina erzählt haben. Jedes Mal wenn sie mehr hinterfragte und mehr über ihre leiblichen Eltern wissen wollte, wurde Johannes sehr zornig.
Sie sollte keine Fragen stellen. Wie ihr Bruder. Das war die oberste Regel. Ihre Eltern waren Versager und ihre Tante Katrin war so nett, ihre Nichte aufzunehmen. Punkt.
Lina konnte das einfach nicht glauben, sie wollte das einfach nicht glauben.
Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als die traurige Geschichte einfach hinzunehmen. Denn hätte ihr Vater sie wirklich lieb gehabt, würde sie nicht bei ihrer furchtbaren Pflegefamilie aufwachsen und von ihrem Stiefbruder gehänselt werden. Oder ?
Was ist damals wirklich geschehen? ...
Es war ein kalter Frühlings Abend 2004.
Auch in Langenhorn waren die Temperaturen sehr niedrig. Manche Verschwörungstheoretiker hielten es für ein böses Omen, aber das war natürlich nur Quatsch.
Anfang Mai kamen zwei Männer in das Dorf.
Einer von ihnen war sehr merkwürdig gekleidet.
Er trug Camouflage-Kleidung mit einem Symbol auf dem Rücken, dass einem Phönix ähnelte. Um seinen Hals hing ein Fernglas. Vielleicht war er Jäger oder hatte sich einfach nur beim Campen verlaufen.
Der andere Mann fiel aber noch mehr in den Straßen von Langenhorn auf. Er hatte zwar eine gewöhnliche, Blaue Daunenjacke und eine schwarze Jeans getragen, doch das was er in seinen Händen hielt, war nicht besonders üblich.
Es war ein kleines Baby mit einer herzförmigen Halskette, die es im Schlaf ganz doll festhielt. Es war umwickelt mit einem großen, weißen Tuch und hatte eine pinke Pudelmütze auf dem Kopf.
Es herrschte Totenstille im Dorf. Alle Bewohner waren wie vom Erdboden verschluckt. Wahrscheinlich waren vielen von ihnen über das Wochenende nach Berlin gefahren wegen ...
„Keine Sorge, Sir. Es wird schon wieder alles gut werden.“ sagte der Mann, der einem Wildhüter ähnelte. „Gestern war zwar eine Schande für die Deutsche Geschichte, aber wir geben nicht so schnell auf. Nicht solange die Glut noch leuchte“, sprach er dem anderen Mann hoffnungsvoll zu.
„Danke, Mike, aber ich glaube nicht, dass es noch Hoffnung gibt. Alles was ich jetzt noch will, ist, dass es ihr gut geht. Ich kann nicht noch jemanden verlieren“, sprach der Mann, während er sehr traurig das Baby in seinem Arm anschaute.
Die Männer verließen den herrlich, grünen Park, den sie nach einem Viertel voller großer Häuser erreichten, und warfen noch einen Blick zurück. „Sehen sie, Sir, an so einem schönen Ort wird sie bestimmt glücklich sein.
„Wir kennen uns nun schon sehr lange, Mike.
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