„Diese Schweine!“, presste sie heraus, „lauter Kinder – heute schon wieder.“ Es waren zornige Tränen, die ihr die Wange hinunterliefen. Sie wischte sie mit dem Handballen fort. Dadurch hatte sie nun große Flecken von Schmutz im Gesicht.
„Komm“, wiederholte Rotberg. Er zog sie mit. Er erblickte Wesselmann einige Meter entfernt. Rotberg deutete mit der freien Hand eine Bewegung an, als würde er aus einer Tasse Kaffee trinken.
Wesselmann bemerkte, dass es Sabrina Hamm nicht gut ging und nickte ihm zu, dass er verstanden hatte.
Sie entfernten sich vom Ort des Geschehens. Rotberg schlug den Weg in die Richtung ein, von der er glaubte, dass es dort eine Gaststätte geben müsste. Sie gingen eine Weile stumm nebeneinander her.
„Entschuldige“, sagte Sabrina Hamm. Sie hatte sich wieder gefangen.
„Mir geht es nicht besser als dir“, meinte Rotberg, „ich bin bloß schon viel zu viele Jahre als harter Kerl unterwegs, um jetzt Tränen zuzulassen. Du machst es richtig – ich werde stattdessen nächtelang wach liegen.“
„Wie kann ein Mensch so etwas tun? Für Geld.“ Sie machte eine Pause. „Für diese Arschlöcher ist eine Gefängnisstrafe viel zu harmlos.“
Rotberg kannte solchen Zorn. Auch er hatte schon einige Male darüber nachgedacht, ob er einen besonders grausamen Täter nicht einfach erschießen sollte. Es gab Menschen, die so boshaft waren, dass sie die niedrigsten Instinkte in einem hervorriefen. Vor manchem Verbrechen stand man in hilfloser Wut. Er hatte mit Jutta immer wieder darüber gesprochen. Es hatte ihm in diesen Momenten geholfen, seine Gefühle zu kanalisieren.
„Da ist die Gaststätte, in die ich wollte“, sagte er. „Wenn wir dort sind, würde ich gern zuerst von Berghausen anrufen und fragen, ob das mit dem Geld läuft.“
„Okay“, antwortete sie.
„Du gehst am Besten auf die Toilette, um dir dein Gesicht zu waschen. Du siehst aus, als kämst du geradewegs aus einem Bergwerk“, er zwinkerte ihr zu. „Ich bestelle uns einen Kaffee.“
Er griff in die Tasche und merkte, dass der Lehrer noch sein Telefon haben musste.
„Ach Sabrina, kannst du mir dein Telefon geben? Ich habe meines leider verliehen?“
In der Gaststätte ging sie sofort in Richtung Toilette. Rotberg bestellte im Hereinkommen am Tresen zwei Kaffee. Er setzte sich an einen Tisch und wählte die Mobilnummer des Polizeipräsidenten. Unter normalen Umständen hätte er zuerst in dessen Sekretariat angerufen – jetzt nahm er sich die Freiheit.
Hans von Berghausen nahm nach dem fünften Klingeln ab. Rotberg sagte, er wolle nicht drängen. Er versuche nur die nächsten Schritte zu planen und möchte wissen, ob der Senator die Sache ebenso sähe wie sie. Der Polizeipräsident berichtete, dass der Innensenator sich gerade in einer Telefonkonferenz mit dem Bundesinnenminister und dem Bürgermeister abstimme. Er hätte das Gefühl, dass Senator Franke der Gedanke gefalle. Er sei optimistisch, dass die Sache laufen werde. Er würde sich melden, sobald er etwas wisse.
In der Zwischenzeit hatte Sabrina Hamm am Tisch Platz genommen, die Kaffees standen vor Ihnen.
„Ich will nicht herzlos erscheinen“, meinte Rotberg, „ich muss aber eine Kleinigkeit essen.“ Er gab der Bedienung ein Zeichen. Sie brachte die Speisekarte.
Er las die Karte quer. „Knipp!“, sagte er, „das hält eine Weile vor.
Sabrina Hamm schüttelte sich. Ihr war diese Grützwurst zuwider. Sie bestellte sich einen großen Salat mit Hühnchenfleisch.
„Der Innensenator führt gerade ein Abstimmungsgespräch mit dem Bürgermeister und dem Bundesinnenminister“, sagte Rotberg.
„Dann läuft die Sache?“, fragte sie.
„Von Berghausen ist optimistisch.“ Rotberg machte eine Pause, er drehte die Kaffeetasse geistesabwesend zwischen den Fingern. „Wie geht’s dir?“
„Na ja, es geht so.“
Er druckste herum. „Sabrina, wenn es möglich ist, will ich dich bei dem Fall an meiner Seite haben.“
Sie antwortete nicht – sie ahnte, was er sagen würde.
„Das, was in den vergangenen sechsunddreißig Stunden passiert ist, übersteigt die Kräfte von uns allen.“
„Du meinst, ich hätte nicht ausrasten sollen.“
Rotberg sah sie an. „Natürlich darfst du mir alles sagen und deinen Zorn auf die Täter bei mir abladen. Wir sollten dann allerdings unbeobachtet sein.“
Sabrina rührte wortlos im Kaffee.
„Da draußen können überall Kameras und Mikrofone lauern. Eine Polizeibeamtin, die die Todesstrafe fordert, die ihre Emotionen scheinbar kaum im Griff hat, ist genau das Futter, auf das sie warten.“
„Verstehe.“
„Sabrina, wenn dich der Fall so stark belastet, sage es mir bitte gleich.“
„Nein“, sagte sie, „geht schon. Die vielen getöteten Kinder, die schweren Verletzungen und der Schlafmangel haben mich mitgenommen. Entschuldige.“
„Es geht nicht um Empathie“. Es geht um Aggression. Das dürfen wir uns nicht erlauben.“ Er machte eine Pause. „Wie gesagt, ich hätte dich in der nächsten Zeit sehr gern an meiner Seite.“
„Verstanden. Wenn es mich umhaut, ziehe ich mich zurück.“
In der Zwischenzeit kam das Essen. Das Knipp verbreitete einen deftigen Geruch. Sabrina Hamm verdrehte die Augen beim Anblick der gigantischen Portion.
„Wenn ich das gegessen habe, brauche ich hinterher einen Liter Wasser gegen den Durst.“
Sie lächelte vorsichtig. Beide begannen zu essen.
„Nachher gehen wir noch mal zurück“, meinte er. „Wir improvisieren ein Koordinationsgespräch und fahren danach ins Präsidium.“
Sabrina Hamm war dankbar, dass Rotberg nicht weiter auf ihrem Zornesausbruch herumritt. Er war nie nachtragend, machte niemals Vorwürfe. Hatte er gesagt, was er wollte, hatte sich das Thema für ihn erledigt und man konnte weiterarbeiten. Das schätzte sie an ihm.
Rotberg war mit seinem deftigen Gericht fertig und bestellte sich eine Flasche Mineralwasser. Er aß nicht nur schnell – er schlang das Essen hinunter. Bei offiziellen Anlässen musste er sich stets bemühen, langsam zu essen. Jeder konnte sehen, dass er kein Genießer war. Wenn Jutta ein gutes Essen in stundenlanger Arbeit zubereitet hatte und er sich das nicht bewusst machte, tat ihm seine Achtlosigkeit hinterher leid. Auch jetzt saß er am Tisch und sah zu wie Sabrina Hamm ihren Salat verspeiste.
„Ich brauche noch einen Augenblick“, sagte sie, „oder soll ich aufhören?“
Er sah sie überrascht an und hob entschuldigend beide Hände: „Nein, um Gottes Willen. So viel Zeit muss sein. Du weißt ja, dass ich immer zu schnell esse.“
In diesem Moment klingelte ihr Telefon. Sie blickte auf das Display, sah Rotberg an und zog dabei die Augenbrauen hoch. Es war Hans von Berghausen, das hatte er verstanden. Sie reichte es ihm.
„Rotberg!“, meldete er sich. Er lauschte. „Verstehe – bleiben wir dabei?“ Rotberg hörte zu. „Gut, wann und wo?“ Er sah auf seine Armbanduhr. „Das schaffen wir. Ich bringe Frau Hamm mit – bis nachher.“ Er legte auf.
„Die Sache läuft, so wie du es vorgeschlagen hast. Die Landesbank muss von verschiedenen Stellen noch weitere Geldmengen heranschaffen – sie haben aber bereits losgelegt. In einer Stunde treffen wir uns im Rathaus.“
„Wer kommt noch?“, wollte sie wissen.
„Der Bürgermeister, der Innensenator, der Finanzsenator, der Innenminister kommt später dazu und das BKA.“
„Und die Kollegen?“
„Die noch nicht.“
Sabrina Hamm legte das Besteck beiseite: „Gehen wir!“
„Du kannst gern zu Ende essen – wer weiß, wann du wieder dazu kommst.“
„Nein, geht schon“, ich danke dir für die Zeit, die du dir genommen hast“, sie lächelte ihn an.
Rotberg stand auf, schritt an den Tresen und bezahlte. Sie gingen zur Unglücksstelle. Er wollte die Kollegen informieren und eine Polizeistreife bitten, sie zum Rathaus zu fahren.
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