Der Mann sah zu Rotberg auf und musterte ihn.
Rotberg zeigte dem Mann seinen Dienstausweis: „Sebastian Rotberg, ich bin Polizeihauptkommissar.“
„Marco Gleisner, ich bin Lehrer an dieser Schule. Mir geht es zwar nicht sonderlich gut, ich kann Ihnen aber ein paar Fragen beantworten.“
„Vielen Dank, Herr Gleisner“, Rotberg notierte den Namen. „Sie sagen mir einfach, wann Sie genug haben und dann hören wir sofort auf, okay?“
Gleisner nickte und sah über den Platz, auf dem vor kurzem seine Schule gestanden hatte. „Waren das dieselben Verbrecher, die gestern auch in den Kindergarten eine Bombe gelegt hatten?“
Rotberg machte eine vage Handbewegung. „Es ist zu früh, um uns festzulegen“, antwortete er. „Es kann natürlich ebenso gut eine andere Explosion gewesen sein und es ist einfach ein zufälliges zeitliches Aufeinandertreffen.“
Gleisner blickte ihn skeptisch an.
„Ich frage Sie einfach einige Dinge, möglicherweise kommen wir der Wahrheit ein Stück näher.“
Der Lehrer verzog keine Mine – Rotberg wartete einen Moment und fragte: „Was glauben Sie, wie viele Personen sich zum Zeitpunkt der Explosion im Gebäude aufhielten?“
Gleisner rieb sich über den Mund. Er überlegte. „Wir haben achtundneunzig Schüler – wir sind eine kleine Privatschule, müssen Sie wissen.“
Der Kommissar nickte und notierte die Zahl.
„Es sind zwanzig Lehrkräfte beschäftigt.“ Er zählte vor dem inneren Auge, „vier Personen in der Verwaltung, das Hausmeisterehepaar, ich glaube, vier Frauen in der Küche. Theoretisch also hundertachtundzwanzig. Praktisch vielleicht einhundert.“
„Das ist ja schon eine ziemlich perfekte Einschätzung.“
Rotberg sah den Lehrer an: „Sie hatten offenbar viel Glück, Herr Gleisner. Befanden sie sich außerhalb des Gebäudes, als das hier passierte?“ Dabei beschrieb Rotberg eine Bewegung mit dem Stift über die Ruine der Schule.
„Fast“, antwortete Gleisner, „ich hatte auf dem Gang ein paar Worte mit einem Schüler gewechselt ...“
Rotberg blätterte in seinem Heft zurück: „Mit Dominik Falter?“
„Ja, genau“, Gleisner sah ihn überrascht an. „Er war auf dem Weg nach draußen. Wir haben einige Sätze geredet. Ich bin ihm wenige Sekunden später gefolgt. Die Tür war noch nicht vollständig ins Schloss gefallen, als es diesen lauten Knall gab.“ Gleisner drückte sich bei diesen Worten die Mittelfinger aufs Ohr. „Ich weiß nicht genau, was dann passierte, im nächsten Augenblick lag ich im Freien auf der Erde. Blut lief mir von der Stirn, dann gab es eine zweite Explosion. Ich duckte mich instinktiv flach an den Boden und schütze meinen Kopf mit den Armen. Es fielen Trümmerstücke herunter. Ich bin grün und blau.“
„Sie sollten sich in eine Klinik bringen lassen“, Rotberg sah in besorgt an.
„Sie haben recht“, meinte der Lehrer. Er zögerte einen Moment: „Könnten Sie mir Ihr Telefon leihen, um meine Frau anzurufen. Meines ist irgendwie im Chaos verschwunden.“
Rotberg griff in die Tasche, holte sein Mobiltelefon raus, er reichte es ihm. „Herr Gleisner, bevor Sie telefonieren, habe ich noch zwei Fragen – dann sind Sie entlassen. Ich würde Sie morgen nochmals aufsuchen.“
Der Lehrer hielt das Telefon in den Händen und sah ihn abwartend an.
„Gibt es in der Schule einen Gasanschluss – Gasheizung oder Gasherde? Wenn ja, können Sie mir in etwa zeigen, wo die Heizanlage gewesen war? Die zweite Frage: Haben Sie vor der Explosion Gasgeruch wahrgenommen?“
„Ja, wir hatten eine Gaszentralheizung“, antwortete Gleisner. Er schaute zu den Trümmern. Er zeigte ungefähr in die Mitte der Ruine: „Sehen Sie dort das Stückchen Rohr aufragen? Das ist mit Sicherheit der Kamin gewesen – darunter wird die Anlage gelegen haben.“
Rotberg sah das Rohrstück: „Das ist einleuchtend. Und Gasgeruch?“ Er tippte dabei an die Nase.
„Gas?“ Gleisner dachte nach. „Nein, das wäre mir aufgefallen“.
„Danke“, meinte der Kommissar. „Jetzt rufen Sie am besten Ihre Frau an. Ich kümmere mich darum, dass Sie in die Klinik kommen – ich bin gleich wieder bei Ihnen.“
Er wandte sich zum Gehen: „Ach, nur noch eine Frage – gab es eine Videoüberwachung im Haus?“
„Ja, ich glaube, es gab drei oder vier Kameras rund ums Gebäude.“
„Nur außen?“, fragte Rotberg.
„Ja, innen hatten wir uns dagegen ausgesprochen.“
„Vielen Dank, nun lasse ich Sie endgültig telefonieren.“ Rotberg ging zu einem Rettungswagen, er bat einen Sanitäter, Herrn Gleisner in ein Krankenhaus zu fahren.
Rotberg hatte die Kollegen in den weißen Anzügen bemerkt. Er erzählte von dem Gespräch mit dem Lehrer und stolperte, begleitet von den Beamten in Weiß, über das Trümmerfeld in Richtung des ehemaligen Kamins.
„Wir müssen es machen wie gestern am Kindergarten“, meinte der Leiter der Forensik. „Mit einem Bergungskran tragen wir Schicht um Schicht ab.“
Rotberg ging auf die Suche nach Günter Timm, dem Einsatzleiter der Feuerwehr. Er sah ihn gestikulierend in einer Gruppe seiner Männer.
„Wahrscheinlich haben Sie es bereits veranlasst“, sagte der Kommissar zu Timm, „ich möchte, dass die Anwohner von hier weggebracht werden. Insbesondere die, die auch noch fotografierend herumlaufen. Wir könnten Sie mit dem Hinweis auf Einsturzgefahr ihrer Häuser von hier fortkomplimentieren.“
„Wir haben alle aus den Gebäuden herausgeholt“, antwortete Timm. „Die laufen aber hier natürlich noch rum.“
„Sehen Sie, ich dachte mir, dass Sie das getan haben.“ Rotberg legte ihm die Hand auf den Unterarm. „Ich schnappe mir jetzt ein paar uniformierte Kollegen, die bringen die Leute weg von hier.“
Es gab Unmut unter den Anwohnern. Einige waren einsichtig, andere argumentierten, dass Sie Angst hätten, dass Einbrecher dieses Chaos nutzen könnten, um in die Häuser einzusteigen. Die Polizei ließ nichts gelten und sorgte innerhalb von zwanzig Minuten dafür, dass niemand mehr in dem Gebiet herumlief, der hier nichts verloren hatte.
In der Zwischenzeit bahnte sich der Bergungskran den Weg bis an die Trümmer heran. Nach einer halben Stunde war er aufgebaut und begann unter Anleitung der Feuerwehr die großen Trümmerteile beiseite zu räumen. Man hatte zuvor einige verletzte und auch tote Personen aus den Trümmern geborgen. Der schwere Dachstuhl lag jedoch wie ein Deckel auf der Ruine. Der Kran räumte das Dach Stück für Stück fort.
Die Schüler, die sich zum Zeitpunkt des Einsturzes im Dachgeschoss befunden hatten, fand man zuerst. Einige lebten und waren mehr oder weniger stark verletzt, bei anderen konnten die Ärzte nur noch den Tod feststellen. Es gab dramatische Rettungsszenen. Ärzte und Sanitäter rangen darum, schwerstverletzte Schüler zu stabilisieren. Einige Versuche schlugen fehl. Man merkte den Medizinern ihren hilflosen Zorn an, wenn sie es nicht schafften. Auch die Helfer würden in den nächsten Tagen schlecht schlafen.
Rotberg wusste, dass die Zahl der Toten zunehmen würde, je tiefer man suchte. Er sah Sabrina Hamm am Rande stehen – sie sah den Bergungstrupps bei der Arbeit zu. Er ging zu ihr.
„Wie geht es dir?“, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern, ohne zu antworten. Er sah sie von der Seite an, sie schien innerlich aufgewühlt zu sein. Würde sie jetzt sprechen, kämen ihr die Tränen. Er wartete ab.
„Wenn du dich ausruhen willst, mach doch Schluss für heute. Wir können hier sowieso nichts ausrichten“, versuchte er sie zu beruhigen.
Sabrina Hamm schüttelte den Kopf. Sie schob die Unterlippe vor und zog die Mundwinkel nach unten. Sie sagte immer noch nichts. Rotberg sah, dass ihre Augen feucht wurden.
Er hakte sie unter: „Komm, wir gehen irgendwo einen Kaffee trinken.“
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