Ich blinzle verwirrt, Sirko verzieht das Gesicht in echter Verwirrung und Olaf läuft rot an. „Jetzt hör mal!“, versucht er sich in lahmem Widerstand. „Hättest auch einfach sagen können, wenn es dir nicht gefällt. Ich wusste ja nicht, dass du so eitel bist.“ Bockig steckt er die Fäuste in die Hosentaschen.
„Eitel?“, ereifert sich Robert. „Eitel?“
„Nicht so laut!“, ermahnt Sirko die beiden Streithähne mit einem ängstlichen Blick auf die umliegenden Fenster. „Die Leute schlafen noch.“
Robert atmet einmal tief durch und flüstert dann aufgebracht weiter: „Hast du überhaupt eine Ahnung, was das bedeutet?“
Olaf zuckt unschuldig die Schultern. „Klar. Anfänger. Meine Mutter hat auch so ein A hinten drankleben. Schon seit Jahren.“
„Anfänger! Anfänger!“, regt sich Robert erneut auf. Man kann ihm förmlich ansehen, wie schwer es ihm fällt, die Stimme nicht wieder zu erheben. „Auf der Fahrerseite, ja, aber doch nicht auf der Beifahrerseite, wo du es hingeklebt hast.“, weist er Olaf zurecht.
„Nicht?“, fragt der verlegen.
„Ist doch egal, auf welcher Seite das klebt.“, versuche ich, Olaf beizuspringen. „Er hat es doch nur gut gemeint.“
„Wohnt ihr denn alle hinterm Mond?“, keucht Robert nun und schlägt sich mit der Hand vor die Stirn. „Es ist ganz und gar nicht egal, wo es klebt. Ein A auf der Beifahrerseite steht für Ausreiseantrag. Wenn die Bullen mich damit sehen, gibt das zwei Jahre, mindestens!“
Uns fällt allen dreien die Kinnlade herunter. „Was du immer alles weißt.“, murmelt Olaf verlegen. „Tut mir echt leid. Das kann doch keiner ahnen.“ Hilfesuchend blickt er sich zu Sirko und mir um und wir nicken zustimmend.
Etwas versöhnter führt uns Robert einmal um den Wagen herum und erklärt uns die für Nicht-Führerschein-Besitzer wichtigen Details. Als er uns endlich alle Einzelheiten des Fahrzeugs inklusive der Zierstreifen ausführlich vorgestellt hat, dürfen wir uns in die Pappkiste zwängen. Olaf und ich landen auf der Rückbank, weil Sirko „der mit den längsten Gräten“ ist, wie uns Robert seine Platzeinteilung erklärt.
„Hinten ist eh bequemer.“, raunt mir Olaf zu und packt seinen dicken Hintern auf den Großteil der Rückbank. „Da kannst du dich zurechtruckeln, wie es dir passt, ohne dass sich ein beschissener Gurt in deinen Hals gräbt.“ Mit einer unmissverständlichen Geste seiner Hand unterstreicht er seine Worte.
Ich quetsche mich neben ihn und versuche, meine Beine in dem engen Zwischenraum vor der Rückbank so zu platzieren, dass der Kopf nicht die ganze Fahrt über zwischen den Knien klemmt und schaue Robert über die Schulter. „Wie ist dein Onkel eigentlich an das Museumsstück gekommen?“, frage ich neugierig. „Ich dachte, die sind voll begehrt.“
Robert spielt am Choke herum und dreht den Zündschlüssel. Einen Moment lang hören wir nur das typische Schleifgeräusch, dann plötzlich bäumt sich das Gefährt auf und stößt ein martialisches Klappern aus. Robert geht voll aufs Gas und lässt den Motor brummen, bis er eine nahezu einheitliche Klanghöhe erreicht hat. Behutsam schiebt er den Choke zurück und wir rollen los in unser erstes großes Abenteuer.
„Der war total Schrott.“, beantwortet Robert meine Frage, als ich schon gar nicht mehr damit rechne. „Keiner hat sich rangetraut. Mein Onkel hat gesagt, dass der bestimmt schon 10 Jahre auf dem Schrottplatz rumgestanden hat, aber sie wollten ihn nie zerlegen, weil er so traurig dagestanden hat. Und das war ein Glück, weil er ihn ja doch noch zum Laufen gebracht hat.“
„Hat echt was drauf, dein Onkel.“ Am Fenster fliegt im Licht des anbrechenden Tages das verschlafene Karl-Marx-Stadt vorbei. Die wenigen Autos am Straßenrand parken gemütlich vor sich hin, in den braun verputzten Häusern sind erst wenige Lichter an. „Warum sind wir nochmal so früh aufgestanden?“, werfe ich die Frage in den Raum, die mir weder Sirko noch Olaf beantworten konnten.
„Weil wir rechtzeitig da sein wollen.“, gibt Robert die glasklare Antwort.
„Na, dann zeig mal, ob dein Trabi so viel drauf hat, wie dein Onkel!“, fordere ich Robert auf.
„Hältst du mich für total bescheuert?“, fragt Robert und schenkt mir durch den winzigen Rückspiegel einen genervten Blick. „Ich habe seit zwei Wochen einen Führerschein und seit vorgestern ein Auto und jetzt soll ich hier durch die Stadt heizen? Willst du, dass ich gleich wieder nur Fahrrad fahren kann?“
„Nein,“ räume ich ein und glotze auf die vorbeiziehenden monotonen Fassaden der bruchreifen Altbauten an der Leipziger Straße. Küchwald, Naturforscherstation und Borna ziehen an mir vorbei und dann haben wir endlich die Autobahn erreicht.
Jetzt geht Robert doch voll aufs Gas. Der Motor dröhnt uns um die Ohren und übertönt selbst Olafs seliges Schnarchen neben mir. Der batteriebetriebene Mono-Kassettenrekorder Marke mira auf Sirkos Schoß versucht, dem Tuckern Steppenwolfs „Born to be wild“ entgegenzusetzen, bis zu uns auf die Rückbank dringt aber nur ein schwacher Basslauf vor. „Auf nach Gera!“, brüllt Robert über das Motorengeräusch hinweg. Sirko und Olaf schrecken kurz aus dem Schlaf auf, sonst ist bis jetzt wenig von Abenteuer und Eroberung der Welt zu spüren. Irgendwie hatte ich mir so eine Konzertreise aufregender vorgestellt.
Das rhythmische Poltern der Teerstreifen zwischen den Platten der Autobahn lullt mich schnell ein. Ich fühle mich an Zugfahrten mit der Reichsbahn erinnert. Auch dort geben die Räder mit ihrem Holpern über die Schweißnähte den inneren Rhythmus des Zuges vor. „Ga-gang. Ga-gang. Ga-gang.“ Ich schließe die Augen und lasse mich von der Eintönigkeit des Rhythmus in einen angenehmen Halbschlaf versetzen, nichts ahnend, dass dieser Tag mein ganzes Leben verändern wird.
„Tilo?“
„Meinst du, er hat einen Hörschaden oder so was?“
„Keine Ahnung. Vielleicht ist er schon tot.“
„Irgendwie sieht er komisch aus, so als hätte er eine Vision oder sowas gehabt!“
„Vision? So ein quatsch. Der ist zugedröhnt. Ich frag mich, wo er den Stoff hergekriegt hat.“
„Quatsch. Der ist einfach nur weg. TILO!“
Ich höre jedes einzelne Wort, das meine Freunde wechseln, allein es ist mir unmöglich, darauf zu reagieren. Wie paralysiert stehe ich vor der kleinen Bühne, auf der sich mit Ausnahme einiger Fusselknäuel schon seit einiger Zeit nichts mehr bewegt und starre mit weit aufgerissenen Augen an die Stelle, an der bis vor einer halben Stunde dieses schwarzhaarige Wesen aus einer anderen Dimension mit ihrer Stimme Emotionen in mir wachgerufen hat, die ich vorher nicht für möglich gehalten hatte.
„Du, das Konzert ist zu Ende.“ Ich spüre, wie mir einer meiner Freunde die Hände auf die Schultern legt und versucht, mich von der Bühne wegzudrehen. Wie ein Baum gegen den Sturm stemme ich mich mit aller Gewalt gegen diesen Versuch, mich aus meiner derzeitigen Position zu entfernen. Ich will für immer hier stehen bleiben, für immer diese unglaubliche Eruption aus Aggression, Tempo und Lautstärke spüren, die mich wie eine Flutwelle überrollt und in magische Gefilde mitgerissen hat.
„Kann es sein, dass er voll in Kerstin verschossen ist?“, höre ich Robert über meinen Zustand spekulieren.
„Kerstin?“, fragt Ole verwundert.
„Na, die Sängerin.“, erwidert Robert, so als müsste allen klar sein, dass dieses schwarzhaarige Energiebündel auf der Bühne nur Kerstin geheißen haben konnte.
„Die mit der Lederjacke?“, vergewissert sich Olaf, der gerade offenbar etwas schwer von Begriff ist. Wer könnte es ihm verdenken, nach diesem Erlebnis.
„Hast du noch eine andere Sängerin gesehen?“, fragt Robert genervt.
„Nee.“, muss Olaf eingestehen.
„Los, wir müssen hier raus!“, mischt sich Sirko in die Diskussion ein. „Die Ordner räumen schon die Stühle vor.
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