Kurt Winklers Gesicht blickt mich deutlich finsterer an. Mit zusammengekniffenen Augen mustert er mich, auf seiner Stirn hat sich eine steile Falte gebildet. „Ich weiß nicht, ob du mich hier verscheißern willst.“, knurrt er mich an. „Aber das eines klar ist: Wir haben dich im Blick, Tilo Reichel. Noch ein Fehltritt, und du bist weg vom Fenster.“
Ich nicke in gespielter Eingeschüchtertheit. Der abrupte Wechsel vom Sie zum Du ist mir durchaus nicht entgangen. Aber ich hatte in den letzten 15 Jahren ja reichlich Gelegenheit, eine angemessen zerknirschte Körperhaltung bis zur Perfektion zu trainieren.
„Und damit meine ich nicht die Berufsausbildung mit Abitur.“ Nun wedelt er aufgeregt mir seinem Finger vor meiner Nase herum. „Das kannst du dir sowieso schön abschminken. Wir haben schon ganz andere subversive Elemente zur Strecke gebracht, da werden wir auch mit dir fertig.“
Ich blinzle kurz, dann blicke ich lieber zu unserer Pionierleiterin. Sie schluckt schwer, bevor sie das Wort an mich richtet. „Du wirst natürlich einen selbstkritischen Beitrag auf der nächsten FDJ-Versammlung in der Schule leisten?“, fragt sie mich mehr mit fast flehentlichem Ton, als dass sie es mir befiehlt.
„Natürlich.“, antworte ich mit fester Stimme, kann aber nicht verhindern, dass sich mein Rückgrat versteift.
„Und jetzt raus hier!“, kommandiert Winkler. „Für den Rest des Pioniertreffens haben Sie natürlich Auftrittsverbot.“, ruft er mir noch hinterher, als ich fluchtartig auf den kahlen, mit dem gleichen Linoleumboden ausgestatteten Flur hinausstürze. Als ob mich das interessieren würde. Ich hatte ohnehin keine weiteren Konzerte geplant.
„Na, du Rebell!“, ruft mir, kurz nachdem ich den Betonklotz, in den sie mich gebracht hatten, als freier Mann verlassen habe, eine bekannte Stimme zu. Verwundert versuche ich mit meinem Blick, das Gequirl aus Pionieren, Betreuern und genervten Passanten, die sich durch das Gewühl ihren Nachhauseweg bahnen müssen, auf der Suche nach dem Rufer zu durchdringen.
„Sirko?“, brülle ich, als ich den Übeltäter identifiziert habe. Ein paar Pioniere bedenken mich mit kritischen Blicken, deshalb schiebe ich mich eilig zu meinem Freund durch. Mit seinem beigen T-Shirt, der Stonewashed-Jeans und den Römersandalen fällt er optisch völlig aus dem Rahmen der um uns herumstehenden Kinder. „Was machst du denn hier?“, sage ich die in solchen Situationen unausweichliche Floskel auf, die unter den Top 10 der blöden Fragen der Menschheitsgeschichte gute Chancen auf einen Podestplatz hätte. An „Schläfst du schon?“ würde sie wahrscheinlich nicht heranreichen können, aber ansonsten gibt es nur wenige Gesprächseröffnungen, die „Was machst du denn hier?“ ernsthaft Konkurrenz machen können. Schließlich sehe ich ja, was Sirko hier macht, nämlich rumstehen und mich angrinsen.
„Wir haben gedacht, dass du vielleicht seelischen Beistand brauchen könntest, wenn du da wieder lebend herauskommst.“, frotzelt er und deutet mit dem Zeigefinger auf das Gebäude, in dem PiLei Barbara Kästner und Kurt Winkler vermutlich immer noch die Köpfe zusammenstecken und überlegen, wie sie meinen Fall als abschreckendes Beispiel zur propagandistischen Erziehung der Jugend ausschlachten können.
„Geht's noch ein bisschen lauter?“ Hinter Sirko taucht Robert aus dem Gewühl auf. Neben seinem Aufzug in ausgetretenen Militärstiefeln und Armeeparka, den er nicht einmal bei über 30 Grad im Schatten auszieht, wirkt Sirko fast schon wieder unauffällig. „Willst du gleich als nächster da drin antanzen?“, raunzt er Sirko an.
„Entschuldigung.“, gibt sich Sirko reumütig. „Auf jeden Fall,“, wendet er sich wieder an mich, „sind wir sofort mit Roberts Karre los, um dich zu unterstützen.“, berichtet er stolz.
Robert geht zwar mit uns in eine Klasse, ist aber vor kurzem 18 geworden und hat deshalb schon seit zwei Jahren einen Motorradführerschein. „Oder um deine Einzelteile zusammenzukehren und einer geordneten Bestattung zuzuführen.“, witzelt er.
„Woher habt ihr denn davon gewusst?“, frage ich skeptisch. Ich hatte gehört, dass es Tage dauern konnte, bis allein Familienmitglieder herausfanden, dass ihre Ehemänner, Mütter oder Kinder wegen irgendwelcher Vergehen irgendwo eingesperrt worden waren.
„Seine Tante.“, sagt Sirko nur und deutet mit dem Daumen auf Robert. Der nickt bestätigend.
„Ach so.“, ist mein einziger Kommentar. Wir wissen, dass Roberts Tante als Sekretärin irgendeines hohen Parteibonzen arbeitet, und viel mehr ist über sie auch nicht herauszubekommen.
Robert schaut sich aufmerksam um und hakt uns dann beide unter. „Los, lasst uns mal ein lauschigeres Plätzchen suchen. Das ist ja kein Thema für die Ohren von solchen Rotzlöffeln.“, zischt er uns im Gehen zu und lotst uns zielstrebig über die breite Prachtstraße, auf der sich die Aktivitäten des Pioniertreffens vor unseren Augen entfalten.
Karl-Marx-Stadt wurde nach dem Krieg unter maßgeblicher Beteiligung von Walter Ulbricht nach modernsten Maßstäben wieder aufgebaut und verfügt durchaus über einen gewissen Charme, vor allem, wenn man in der Stadtverwaltung arbeitet und Großveranstaltungen plant. Die Straßen sind so breit, dass ein einzelner Trabi darin Angstzustände bekommen kann wie ein verlorener Reisender in der Sahara. Die sie begrenzenden Gebäude strahlen die vertrauenerweckende Wärme von Eisbergen aus, die jahrelang den Rauchwolken der Braunkohlekraftwerke rund um Leipzig ausgesetzt waren und deshalb eine ungesund braune Farbe angenommen habe. Und es gibt absolut keine kleinen Nebenstraßen und Gassen, in denen sich konterrevolutionäre Subjekte hätten verstecken können. Deshalb folgen wir Robert ohne Nachzudenken die Karl-Marx-Allee entlang, bis wir über die große Kreuzung am Zentrum Warenhaus gelangen und urplötzlich fast allein auf der Straße stehen. Außerhalb des Innenstadtkerns gibt es keine Attraktionen für die Pioniere und die Werktätigen auf dem Weg in den wohlverdienten Feierabend haben in bewährter Manier den Kopf zwischen die Schultern gezogen und den Blick fest auf das Pflaster geheftet.
„Na los, jetzt erzähl schon!“, drängt mich Robert zu einem Bericht über den Grund meines Verhörs.
Ich liefere den beiden Tratschtanten eine Kurzversion der Ereignisse. Gespannt und ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen, hängen sie an meinen Lippen.
„Ja, leck mich doch!“, murmelt Sirko, als ich fertig bin. „Hast du sie noch alle? Erst Langeweile spielen und dann auch noch Looking for Freedom? Da kannst du noch froh sein, dass sie dich nicht gleich eingesperrt haben.“
„Ich hätte es auf jeden Fall gemacht.“, mischt sich Robert ein.
„Was?“, fragt Sirko nach.
„Was, was?“, gibt Robert irritiert zurück.
„Was hättest du gemacht?“, konkretisiert Sirko seine Anfrage.
„Ihn eingesperrt.“, erwidert Robert und zeigt auf mich. Mit großen Augen und offenen Mündern starren wir ihn an. „Wegen grottigem Musikgeschmack!“, ereifert sich unser Freund. Er kramt in den Taschen seines Parka, holt eine Packung f6 hervor und steckt sich einen Glimmstengel zwischen die Lippen. „Wollt Ihr auch?“, bietet er uns wie jedes Mal generös eine Kippe an, in der korrekten Annahme, dass wir wie jedes Mal dankend ablehnen werden. Missbilligend schüttelt er den Kopf. „Also wirklich, Tilo! Da hast du einmal die Chance, vor Publikum ein richtiges Statement abzugeben, politisch mal so richtig auf die Kacke zu hauen, und dann fällt dir nichts besseres ein als Bruce Springsteen? Das ist Perlen vor die Säue, sag ich dir. Wenn du schon so einen Scheiß baust, dann muss das richtiger Scheiß sein, Mann!“
Meine Gedanken versuchen verzweifelt, die Botschaft hinter seinen Worten zu verstehen. „Ich hab doch gar nicht...“, stammle ich.
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