„Wer bist du?“, fragte er gefährlich leise, während er Mom abschätzend musterte.
„Ich hätte schon erwartet, dass du mich erkennen würdest, Mike. Ich war zwar lange nicht da, aber verändert habe ich mich zumindest äußerlich wirklich nicht“, antwortete Mom schwach lächelnd und sah ihm fest in die Augen.
„Das ist nicht lustig… Was denkst du dir dabei, den Körper meiner toten Schwester zu missbrauchen, um dir das Vertrauen meiner Familie zu erschleichen?“
„Ich missbrauche nicht den Körper deiner Schwester, ich bin sie“, meinte sie leise, aber bestimmt.
„Nein, das bist du nicht. Das ist unmöglich! Meine Schwester ist gestorben, unwiderruflich, vor zwölf Jahren! Also antworte mir ehrlich: Wer bist du?!“, schrie mein Onkel und wurde zum Schluss immer lauter. Wenn er nicht noch damit beschäftigt wäre, Ariana davon abzuhalten, zu meiner Mom zu stürzen, würde er sich wohl vermutlich selbst auf sie stürzen, nur definitiv nicht, um sie zu umarmen.
„Mikaël… Beruhige dich“, forderte Josias leise von seinem Bruder und meldete sich so das erste Mal heute zu Wort. Und mal wieder war er die Stimme der Vernunft.
„Ich soll mich beruhigen? Wie könnte ich, wenn irgendjemand es wagt, uns so zu verhöhnen?“
„Ich verhöhne euch nicht!“, widersprach meine Mom sofort. „Frag mich etwas, irgendetwas, was nur ich wissen kann, und ich werde es dir sofort beantworten!“
„Nein. Wenn du es wirklich bist, brauchst du keine Frage, dann kannst du es auch so beweisen, dass du es bist“, widersprach mein Onkel stur.
„Okay, also schön…“, seufzte Mom. „Vor meinem Tod habe ich jedem von euch einen kleinen Abschiedsbrief geschrieben. Ich vermute mal, dass du deinen niemandem sonst gezeigt hast. Ich habe darin kaum über uns beide geschrieben, sondern hauptsächlich, dass du endlich über deinen Schatten springen solltest, um dich bei Sam zu entschuldigen. Und ich habe dir geschrieben, dass du dir wegen mir keine Vorwürfe machen sollst, weil du mir immer ein wundervoller Bruder warst. Und dass du dich nicht so darauf fixieren sollst, dass John nicht dein leiblicher Vater ist, weil es vollkommen egal ist, dass wir eigentlich nur deine Halbgeschwister sind, solange wir selbst dich als vollwertiges Mitglied der Familie sehen und…“
„Anni?“, unterbrach Mike sie dann plötzlich mit geweiteten Augen, bevor sie ihren Satz beenden konnte.
Lächelnd sah meine Mom ihn an. „Schön, dass du es mir jetzt auch glaubst.“
Sofort ließ Mike seinen Arm sinken, der bislang Ariana aufgehalten hatte. Diese stürmte nur einen Wimpernschlag später auf uns zu, um Mom stürmisch zu umarmen.
„Ich habe dich so unglaublich vermisst, Anni“, murmelte sie mit Tränen der Freude in den Augen.
„Ich dich auch, Aria“, antwortete Mom ihr mit zitternder Stimme, während sie ihre so lang vermisste Schwester an sich drückte. Die beiden waren wirklich das beste Beispiel für eine Vorbilds-Schwester-Beziehung.
Währenddessen ging Mayla auf mich zu und stellte sich neben mich, wobei sie ihren Kopf leicht auf meiner Schulter ablegte. „Sie sind echt süß. So eine tolle Schwester hätte ich auch gerne“, flüsterte sie leise.
Ich lächelte leicht, ohne den Blick von den beiden abzuwenden, die so aussahen, als würden sie sich nie wieder loslassen wollen. „Ach, das brauchst du doch nicht, du hast schließlich den allerbesten Cousin, den man nur haben kann“, grinste ich sie dann leicht an, während ich meinen Arm um ihre Schulter legte, um sie näher an mich zu drücken.
„Stimmt, da hast du auch wieder recht“, grinste sie leicht und lehnte sich wieder an mich.
Eine Weile standen wir einfach so da, bis sich Ariana wieder von Mom löste und die beiden sich die Tränen aus den Augen wischten. Kurz darauf stand auch schon Josias vor ihr und drückte sie nur einen Augenblick später fest an sich. „Es tut so gut, dass du jetzt wieder da bist“, flüsterte er ihr ins Ohr, jedoch konnte ich ihn dank meines Vampirgehörs trotzdem ausgezeichnet verstehen.
„Ja, das finde ich auch…“, flüsterte sie zurück. „Jetzt musst du dich wenigstens nicht mehr alleine darum kümmern, dass unsere Geschwister sich auch benehmen“, lachte sie leise und ich musste sofort etwas breiter grinsen, als ich endlich wieder nach so vielen Jahren das Lachen meiner Mutter hören konnte.
„Ja, zum Glück. Sie waren wirklich anstrengend“, grinste mein Onkel sie leicht an und ich war erstaunt, wie locker er mit Mom umging. Ich hatte es ja schon früher bemerkt, aber da war es mir noch nie wirklich aufgefallen, da ich es nicht anders gekannt hatte. Aber jetzt, wo ich wusste, dass Josias auch ganz anders sein konnte, jetzt, wo er bislang immer eher ernst und langweilig gewesen war, seit Mom gestorben war, da war es etwas ganz Besonderes, ihn wieder so locker und entspannt zu sehen.
„Hey!“, riefen Mike und Ariana wie auf Knopfdruck empört, doch da eh beide grinsten, wusste ich, dass sie das nicht wirklich schlimm fanden.
Meine Mom sah bei Mikes Stimme sofort wieder zu ihm. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass die Zeit still stand, während die beiden sich gegenseitig musterten. Alle in diesem Raum sahen nur Mike an, seine Reaktion abwartend, und wagten es kaum zu atmen. Niemand wusste, was er jetzt tun würde. Er hingegen sah nur meine Mom an, mit einem Gesicht, das all seine Gefühle vor unseren neugierigen Blicken verbarg. Ich hatte wirklich überhaupt keine Ahnung, was er jetzt tun würde. Er hatte es zwar eingesehen, dass Mom wirklich sie selbst war, aber ich wusste nicht, ob er auch wirklich realisiert hatte, was das eigentlich bedeutete. Dass das bedeutete, dass seine so lang tot geglaubte Schwester wirklich wieder da war. Dass unsere Familie wieder vollständig war. Dass wir nie wieder auf sie verzichten mussten. Würde er es verstehen, was für ein unglaubliches Glück es war? Oder würde er wieder all seine Gefühle verdrängen und in seine Paranoia zurückfallen, so werden wie er vor Jahren war? Würde er wieder zu dem unnahbaren Mann werden, der seine Familie von sich stößt? Zu dem Mann aus den vielen schrecklichen Erzählungen? Vielleicht war er ja doch zu paranoid, um sich auf dieses Glück einzulassen. Vielleicht würde er es nicht glauben wollen, dass Mom wirklich wieder da war und uns jetzt auch nicht mehr verlassen würde. Wenn er das nicht akzeptierte, würde er sie definitiv von sich stoßen, um dafür zu sorgen, dass sie ihm nie wieder so wichtig werden könnte. Er täte dies, um sich zu schützen. Damit es nie wieder schmerzen könnte, wenn sie letztendlich doch wieder stirbt oder verschwindet. Aber er würde sich damit nur noch mehr verletzen und uns gleich mit. Er täte es, um sich zu schützen, aber es würde nur alle unglücklich machen. Die Frage war nur, ob er das auch wusste oder ob ihn das überhaupt etwas ausmachen würde. Vielleicht hatte er ja auch gar nicht so unter dem Verlust seiner Schwester gelitten, vielleicht war ihm das gar nicht so wichtig, ob sie wieder da war oder nicht. Vielleicht würde er sie weder von sich stoßen noch sie in die Arme schließen. Was würden wir tun, wenn er sie nur mit einem kalten Nicken begrüßen würde, ihre Existenz zur Kenntnis nehmend, aber mehr auch nicht? Das wäre doch furchtbar.
Aufmerksam mustere ich weiter meinen Onkel und war unglaublich erleichtert, als ich nach ein paar Augenblicken endlich wieder eine Gefühlsregung in seinem Gesicht erkennen konnte. Und nur einen kurzen Augenblick später, bevor irgendeiner von uns noch reagieren konnte, stand er schon direkt vor meiner Mom und zog sie fest in seine Arme.
Ich atmete erleichtert auf, als mein Onkel meine Mutter in den Arm nahm und ich hatte das Gefühl, dass das alle anderen im Raum hier genauso erleichterte. Jedenfalls entspannte Mayla sich merklich und auch die Gesichter meiner Familie wirkten weniger nervös und angespannt. Aber am glücklichsten sah immer noch Mom aus, die sich fest an Mike gedrückt hatte.
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