Alice im Wunderland
Alice im Wunderland
© 1865 by Lewis Carroll
Alice in Wonderland
Aus dem Englischen von
Antonie Zimmermann
Illustrationen Lewis Carroll
Umschlagbild: Jessie Willcox Smith
© Lunata Berlin 2020
Schöner, goldner Nachmittag,
Wo Flut und Himmel lacht!
Von schwacher Kindeshand bewegt,
Die Ruder plätschern sacht -;
Das Steuer hält ein Kindesarm
Und lenket unsre Fahrt.
So fuhren wir gemächlich hin
Auf träumerischen Wellen -;
Doch ach! die drei vereinten sich,
Den müden Freund zu quälen -;
Sie treiben ihn, sie drängten ihn,
Ein Märchen zu erzählen.
Die Erste gab's Kommandowort;
O schnell, o fange an!
Und mach' es so, die Zweite bat,
dass man recht lachen kann!
Die Dritte ließ ihm keine Ruh
Mit wie? Und wo? Und wann?
Jetzt lauschen sie vom Zauberland
Der wunderbaren Mähr';
Mit Tier und Vogel sind sie bald´
In freundlichem Verkehr,
Und fühlen sich so heimisch dort,
Als ob es Wahrheit wär'. -;
Und jedes Mal, wenn Fantasie
Dem Freunde ganz versiegt: -;
»das Übrige ein ander Mal!«
O nein, sie leiden's nicht.
»Es ist ja schon ein ander Mal!« -;
So rufen sie vergnügt.
So ward vom schönen Wunderland
Das Märchen ausgedacht,
So langsam Stück für Stück erzählt,
Beplaudert und belacht,
Und froh, als es zu Ende war,
Der Weg nach Haus gemacht.
Alice! O nimm es freundlich an!
Leg' es mit güt'ger Hand
Zum Strauße, den Erinnerung
Aus Kindheitsträumen band,
Gleich welken Blüten, mitgebracht
Aus liebem, fernen Land.
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Erstes Kapitel
Hinunter in den Kaninchenbau
Alice fing an sich zu langweilen; sie saß schon lange bei ihrer Schwester am Ufer und hatte nichts zu tun. Das Buch, das ihre Schwester las, gefiel ihr nicht; denn es waren weder Bilder noch Gespräche darin. »Und was nützen Bücher,« dachte Alice, »ohne Bilder und Gespräche?«
Sie überlegte sich eben, (so gut es ging, denn sie war schläfrig und dumm von der Hitze,) ob es der Mühe wert sei aufzustehen und Gänseblümchen zu pflücken, um eine Kette damit zu machen, als plötzlich ein weißes Kaninchen mit roten Augen dicht an ihr vorbeirannte.
Dies war grade nicht sehr merkwürdig; Alice fand es auch nicht sehr außerordentlich, dass sie das Kaninchen sagen hörte: »O weh, o weh! Ich werde zu spät kommen!« (Als sie es später wieder überlegte, fiel ihr ein, dass sie sich darüber hätte wundern sollen; doch zur Zeit kam es ihr alles ganz natürlich vor.) Aber als das Kaninchen seine Uhr aus der Westentasche zog , nach der Zeit sah und eilig fortlief, sprang Alice auf; denn es war ihr doch noch nie vorgekommen, ein Kaninchen mit einer Westentasche und einer Uhr darin zu sehen. Vor Neugierde brennend, rannte sie ihm nach über den Grasplatz, und kam noch zur rechten Zeit, um es in ein großes Loch unter der Hecke schlüpfen zu sehen.
Den nächsten Augenblick war sie ihm nach in das Loch hineingesprungen, ohne zu bedenken, wie in aller Welt sie wieder herauskommen könnte.
Der Eingang zum Kaninchenbau lief erst geradeaus, wie ein Tunnel, und ging dann plötzlich abwärts; ehe Alice noch den Gedanken fassen konnte sich schnell festzuhalten, fühlte sie schon, dass sie fiel, wie es schien, in einen tiefen, tiefen Brunnen.
Entweder musste der Brunnen sehr tief sein, oder sie fiel sehr langsam; denn sie hatte Zeit genug, sich beim Fallen umzusehen und sich zu wundern, was nun wohl geschehen würde. Zuerst versuchte sie hinunter zu sehen, um zu wissen wohin sie käme, aber es war zu dunkel etwas zu erkennen. Da besah sie die Wände des Brunnens und bemerkte, dass sie mit Küchenschränken und Bücherbrettern bedeckt waren; hier und da erblickte sie Landkarten und Bilder, an Haken aufgehängt. Sie nahm im Vorbeifallen von einem der Bretter ein Töpfchen mit der Aufschrift: » Eingemachte Apfelsinen «, aber zu ihrem großen Verdruss war es leer. Sie wollte es nicht fallen lassen, aus Furcht Jemand unter sich zu töten; und es gelang ihr, es in einen andern Schrank, an dem sie vorbeikam, zu schieben.
»Nun!«, dachte Alice bei sich, »nach einem solchen Fall werde ich mir nichts daraus machen, wenn ich die Treppe hinunter stolpere. Wie mutig sie mich zu Haus finden werden! Ich würde nicht viel Redens machen, wenn ich selbst von der Dachspitze hinunter fiele!« (Was sehr wahrscheinlich war.)
Hinunter, hinunter, hinunter! Wollte denn der Fall nie endigen? »Wie viele Meilen ich wohl jetzt gefallen bin!«, sagte sie laut. »Ich muß ungefähr am Mittelpunkt der Erde sein. Laß sehen: das wären achthundert und fünfzig Meilen, glaube ich –« (denn ihr müßt wissen, Alice hatte dergleichen in der Schule gelernt, und obgleich dies keine sehr gute Gelegenheit war, ihre Kenntnisse zu zeigen, da Niemand zum Zuhören da war, so übte sie es sich doch dabei ein) – »ja, das ist ungefähr die Entfernung; aber zu welchem Längen- und Breitengrad ich wohl gekommen sein mag?« (Alice hatte nicht den geringsten Begriff, was weder Längengrad noch Breitengrad war; doch klangen ihr die Worte großartig und nett zu sagen.
Bald fing sie wieder an. »Ob ich wohl ganz durch die Erde fallen werde! Wie komisch das sein wird, bei den Leuten heraus zu kommen, die auf dem Kopfe gehen! die Antipathien, glaube ich.« (Diesmal war es ihr ganz lieb, dass Niemand zuhörte, denn das Wort klang ihr gar nicht recht.) »Aber natürlich werde ich sie fragen müssen, wie das Land heißt. Bitte, liebe Dame, ist dies Neu-Seeland oder Australien?« (Und sie versuchte dabei zu knixen, – denkt doch, knixen, wenn man durch die Luft fällt! Könntet ihr das fertig kriegen?) »Aber sie werden mich für ein unwissendes kleines Mädchen halten, wenn ich frage! Nein, es geht nicht an zu fragen; vielleicht sehe ich es irgendwo angeschrieben.«
Hinunter, hinunter, hinunter! Sie konnte nichts weiter tun, also fing Alice bald wieder zu sprechen an. » Dinah wird mich gewiß heut Abend recht suchen!« ( Dinah war die Katze.) »Ich hoffe, sie werden ihren Napf Milch zur Teestunde nicht vergessen. Dinah! Miez! ich wollte, du wärest hier unten bei mir. Mir ist nur bange, es gibt keine Mäuse in der Luft; aber du könntest einen Spatzen fangen; die wird es hier in der Luft wohl geben, glaubst du nicht? Und Katzen fressen doch Spatzen?« Hier wurde Alice etwas schläfrig und redete halb im Traum fort. »Fressen Katzen gern Spatzen? Fressen Katzen gern Spatzen? Fressen Spatzen gern Katzen?« Und da ihr Niemand zu antworten brauchte, so kam es gar nicht darauf an, wie sie die Frage stellte. Sie fühlte, dass sie einschlief und hatte eben angefangen zu träumen, sie gehe Hand in Hand mit Dinah spazieren, und frage sie ganz ernsthaft: »Nun, Dinah , sage die Wahrheit, hast du je einen Spatzen gefressen?« Da mit einem Male, plump! Plump! Kam sie auf einen Haufen trocknes Laub und Reisig zu liegen, – und der Fall war aus.
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