Ogas Nim blickte in die Richtung des Rufers und nickte zustimmend.
»Ja, es beginnt. So, wie es die alten Schriften ankündigen! Ich habe keinen Zweifel daran, dass unser alter Feind zurückgekehrt ist. Und wie es aussieht, ist er uns bereits mehrere Schritte voraus. Chaos und Elend werden noch deutlich wachsen, wenn wir nicht umgehend handeln!«
Für einen Moment schloss der Ordensvorsteher die Augen, um sich zu sammeln. Zum ersten Mal, seit Ankartho den Ishiden kannte, wirkte Ogas Nim alt und müde auf ihn. Als wäre die Last, die er zu tragen hatte, allmählich zu groß. Vielleicht, kam ihm in den Sinn, war er wie dieses Gebäude - nicht mehr das, was er einst gewesen war. Doch ebenso schnell schob er den Gedanken wieder fort. Denn der Ordensoberste strahlte trotz allem noch immer die Kraft aus, für die er ihn seit je her bewundert hatte.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren. Unsere Aufgabe ist es, das ausbrechende Chaos wieder einzudämmen. Wir müssen die Nachkommen der Herrscher dieser Welt schützen, auch in unserem eigenen Interesse! Wir müssen den Feind der Völker dieser Welt zurücktreiben in das Dunkel, dem er entstiegen ist. Darum wird jeder von euch in Kürze einen Auftrag erhalten, den zu erfüllen er umgehend aufbrechen muss!«
Nun wurde es deutlich unruhiger im Raum. »Werden wir einzeln ausgesandt?«, fragte jemand.
»Ja.«, antwortete Ogas Nim. »Unsere Zahl ist klein und es gibt zu viele Orte, an die sich ein Ordensmitglied begeben sollte.«
»Wie wird festgelegt, wer wohin geht?«, fragte ein anderer Ordensmann mit besorgtem Unterton. »Ich muss nach meiner Familie sehen.«
Ankartho horchte auf. Daran hatte er gar nicht gedacht! Seine drei Geschwister. Ging es ihnen gut?
»Gibt es Nachrichten aus dem Schilfmeer?«, fragte Sanholi neben ihm.
Der Ordensoberste hob beide Hände. »Ich habe euch alle Dinge mitgeteilt, die wir bis jetzt wissen! Es scheint, als wären zuerst die großen Reiche Ziel von Angriffen geworden.«, sagte er. »Wir werden entscheiden, wer wohin gesandt wird, aber es wäre unklug, wenn jeder einfach nach Hause ginge. Persönliche Gefühle werden euch nur ablenken, euch gedankenlos und leichtsinnig machen!«
Er wurde lauter, als der Lärm im Saal nicht abklang.
»Erinnert euch an euren Eid!«, donnerte er schließlich und die Ordensleute verstummten. »Wir werden unsere Aufgabe erfüllen, so wie wir es gelobt haben! So wie die Sheren Zay der alten Tage! Denn dafür, Wächter, wurdet ihr alle jahrelang ausgebildet! Manche von euch fast ihr ganzes Leben! Vertraut in das Gelernte. Vertraut in euer Schicksal. Dann werden wir unsere Mission erneut zu einem guten Ende bringen!«
Noch einmal blickte Ogas Nim jeden einzelnen eindringlich an, ehe er eine rasche Geste mit seiner Hand vollführte, die die Anwesenden entließ.
»Geht nun in eure Kammern. Meditiert. Kontrolliert eure Waffen und eure Rüstungen. Macht euch reisefertig und geht heute früh zu Bett. Ihr werdet eure Kräfte morgen brauchen! Es wird heute daher keine Übungen mehr geben.«
Die Wächter erhoben sich und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen, während sie langsam den Saal verließen. Ankartho bezweifelte, dass heute irgendjemand früh schlafen würde. Wesentlich wahrscheinlicher war, dass die meisten gar nicht schliefen, aus Sorge um ihre Geschwister. Denn sollte es tatsächlich der alte Feind sein, der die Anschläge verübt hatte, dann dürften es wohl kaum die letzten gewesen sein. Vielmehr stellte das, was bisher geschehen war, in diesem Fall mit Sicherheit nur den Anfang dar.
»Ankartho, auf ein Wort!«, drang die Stimme des Ordensobersten an die Ohren des jungen Mannes. Überrascht wandte er sich um und straffte sich.
Ogas Nim stand ein paar Schritte entfernt und bedachte ihn, wie so oft, mit einem väterlichen Lächeln. Und dennoch konnte Ankartho die Sorgenfalten im Gesicht seines Mentors nicht übersehen.
»Wir gehen am besten in mein Arbeitszimmer.«, stellte der Ishide fest. »Denn du wirst im Gegensatz zu den anderen noch heute aufbrechen…«
Das Arbeitszimmer des Ordensobersten war ein quadratischer, zur einen Hälfte mit Bücherregalen, zur anderen mit Waffen und Rüstungen vollgestopfter Raum im ersten Stock des Hauptgebäudes des Klosters. Von hier aus hatte man einen guten Blick über den Großteil der Klosteranlage und das hügelige Land jenseits der Mauern. Doch heute hatte Ankartho keinen Sinn dafür. Es war auch das erste Mal, dass er die historischen Waffen, die an einer der Wände arrangiert waren, nicht beachtete. Und ebenso wenig die ychischen Rüstungen auf ihren hölzernen Ständern.
»Wie viele von uns werden nach morgen noch hier sein?«, fragte der junge Mann.
Ogas Nim runzelte die Stirn und kratzte sich mit der Linken am Hinterkopf, während er auf das Dokument hinab sah, das auf seinem wuchtigen Schreibtisch zuoberst lag.
»Nur eine Handvoll. Die, die noch nicht bereit für eine solche Mission sind.«, sagte er dann. »Aber kommen wir besser direkt zur Sache. Denn die Zeit drängt.«
Ankartho verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete, wie Ogas Nim eine große Weltkarte aus einem Haufen loser Pergamentstücke hervor kramte und ausbreitete.
»Ich will ehrlich sein, Ankartho. Du bist einer meiner talentiertesten Schüler. Darum muss ich dich dorthin schicken, wo es schon brennt und nicht an einen Ort, an dem noch nichts geschehen ist.«
Er deutete auf einen Punkt auf der Karte. Ankartho kniff die Augen zusammen und las die kleinen, mit schwarzer Tinte geschriebenen Buchstaben. Dort stand »Herdringard«.
»Du wirst dich so rasch es nur geht in die Hauptstadt Herdrinlands begeben. Sie liegt einige Tagesreisen von hier im Nordosten. Ich lasse dir eines der schnellsten Tiere im Stall satteln, damit du umgehend aufbrechen kannst. Am besten reitest du nach Perilat und kaufst dir dort eine Passage über die Weite See. Dann kannst du in ein paar Tagen in Sudhaven an Land gehen. Von dort aus sind es noch einmal etwa vier Tagesritte nach Herdringard, sofern du dich eilst. So dauert die Reise insgesamt etwa zwei bis drei Wochen, wenn die Winde günstig wehen.«
Der Zeigefinger des Ishiden war seinen Ausführungen während er sprach über das Pergament gefolgt. Ankartho strich sich mit der Rechten über das Kinn. Sein Blick war an einem anderen Punkt etwas abseits der vorgeschlagenen Route stehen geblieben.
»Wieso reite ich nicht nach Inarock und nehme mir dort ein anderes Transportmittel? Das wäre wesentlich schneller…«
Ogas Nim zog missbilligend die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Das ist viel zu gefährlich. Der Weg dorthin führt durch äußerst unsichere Lande voller räuberischer Nomaden. Niemandem ist geholfen, wenn du unterwegs umkommst. Außerdem solltest du vielleicht nicht schon bei deiner Ankunft mehr Aufsehen erregen als ein brennender Troll in der großen Markthalle von Kadelon.«
Ankartho schmunzelte. Es war gut zu sehen, dass der Ishide noch immer zu Scherzen aufgelegt war, auch wenn sein Gesicht nach wie vor ernst blieb.
»Sei bitte vernünftig.«, schob der Ordensoberste nach. »Diese Mission ist zu wichtig, um sie zu gefährden und wir haben nicht die Zeit, das auszudiskutieren. Das alles ist kein Abenteuer, es ist bitterer Ernst.«
Ankartho überlegte kurz, ob er mit seinem Mentor diskutieren sollte. Doch der würde nur zunehmend ungeduldiger werden und ihn schließlich maßregeln. Also entschied er, klein bei zu geben.
»Wie genau lautet mein Auftrag?«, fragte er.
Ogas Nim musterte ihn einen Augenblick lang. Wahrscheinlich machte ihn das schnelle Einlenken seines sonst so halsstarrigen Schülers misstrauisch.
»Der König von Herdrinland, Gerwin, hat zwei Töchter. Sie sind bereits volljährig, aber das wird unsere Feinde nicht abhalten. Ihre Namen sind Estrith und Rika. Wenn du rechtzeitig am Ziel bist solltest du sie noch in Herdringard vorfinden.«, erklärte der Ishide.
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