Er blickte auf seine Hände herab. In einem davon lag ein junges, grünes Wabeeki-Blatt, das er von einem der Bäume im Klostergarten abgerissen hatte. Er seufzte, schloss die Hand darum und konzentrierte sich. Sofort durchströmte neue Kraft seinen Körper. Es war nicht viel, doch das Gefühl brachte ihn dennoch zum Lächeln. Als er sich erhob, rieb er seine Hände aneinander und etwas Trockenes, Bräunliches rieselte auf den Boden.
Ankartho trat vor den Spiegel und betrachtete sich. Den schüchternen, stillen Jungen, der vor sechs Jahren nach Isilanthe gekommen war, erkannte er darin nicht mehr. Stattdessen blickte ihm ein durchtrainierter, hochgewachsener junger Mann mit schulterlangem, schwarzem Haar entgegen. Sein linkes Auge war vollkommen schwarz, die Iris des rechten hatte die Farbe von Moos auf feuchtem Stein. Unwillkürlich musste Ankartho lächeln.
Er erinnerte sich noch allzu gut daran, wie ihn sein Vater hatte rufen lassen. Damals, in der Fackelhalle von Borshera, hatte er Ogas Nim zum ersten Mal gesehen. Einen breitschultrigen, untersetzten Ishiden, der sein Haupthaar bis auf einen einzelnen, geflochtenen Zopf ausrasiert hatte. In einem einfachen Wickelgewand hatte er vor seinem Vater gestanden, dem mächtigen Flusskönig des Mukhet und ihm von der Wichtigkeit der ehrenvollen Aufgabe erzählt, die zu erfüllen seine Söhne auserwählt worden waren.
Doch der König hatte Ogas Nim nur Ankartho mitgegeben.
Seinen vierten Sohn, den der Herrscher ohnehin hatte loswerden wollen, da er ihn dann nicht mehr durchfüttern musste. Ankartho war sicher, dass seinem Vater das Angebot des Ordens der Sheren Zay, der Tränenwächter, nur allzu gelegen gekommen war. Doch heute war ihm das egal. Er hatte seinen Platz in der Welt gefunden. Einen, den ihm niemand missgönnte, neidete oder wegnehmen wollte. Und er würde, solange Leben in ihm war, alles dafür tun, ihn zu behalten.
Der Orden der Sheren Zay war uralt. Jahrtausende, wie man den alten Schriften in den Archiven Isilanthes entnehmen konnte. Und es entsprach der Wahrheit, dass jedes Mitglied von den Obersten ausgesucht worden war. Jedoch folgte längst nicht jeder, der erwählt war, den Zielen des Ordens zu dienen, auch dessen Ruf.
In den letzten sechs Jahren hatte Ankartho in Isilanthe fünf Sprachen gelernt, sowie den Umgang mit Federschwert, Dolch und Kampfspeer. Die Lektionen begannen bei Sonnenaufgang und endeten erst bei Sonnenuntergang. Nur jeden siebten Tag wurde man davon befreit, um andere Arbeiten im Kloster verrichten zu können. Ein hartes, mühevolles Leben, doch es lohnte sich. Vor allem, wenn man die letzte Stufe der Ausbildung erreichte und durch den Trank, den man Hel Hanesh nannte, die Tür der Verwandlung, zu einem wahren Wächter der Tränen wurde. Erst danach konnte man das Idh, die Energie, die allem innewohnte, das lebte, an sich ziehen. Erst dann konnte man lernen, es in Bahnen zu lenken und es im Kampf einzusetzen, zur Selbstheilung, um schneller zu sein, besser zu sehen und zu hören und vieles mehr. Doch hatte dies natürlich eine Kehrseite. Denn wem oder was man auch immer das Idh entzog, verdorrte und starb. Darum, so lehrte Ogas Nim, kam mit der Fähigkeit, das Idh zu nutzen, auch eine große Verantwortung. Niemals, so der Lehrmeister, sollte dies leichtfertig geschehen.
Ein lautes Klopfen an der Tür holte Ankartho aus seinen Tagträumen.
»Schläfst du?!«, fragte jemand. Das war die Stimme von Zenastro, dessen Zelle einige Türen weiter auf demselben Korridor lag. »Es hat schon dreimal geläutet!«
»Geh ruhig voraus!«, gab Ankartho zurück. »Ich komme gleich!« Den sich entfernenden Schritten nach hatte dies als Antwort genügt. Zenastro wollte offenbar nicht als Letzter in die Halle der Versammlung kommen. Und Ankartho wollte dies ebenso wenig.
Eilig band sich der junge Mann sein Haar mit einem Lederriemen zu einem Pferdeschwanz zusammen und zog seine dunkle Leinenkleidung zurecht. Dann schlüpfte er in seine Stiefel und band sich seinen Stoffgürtel um die Hüfte, in den er sein Federschwert und seinen Dolch steckte, die Symbole seines Status als Wächter der Tränen.
So ausgestattet verließ Ankartho seine kleine Zelle im Wohnflügel des massigen Klosterbaus und machte sich auf den Weg zur Versammlungshalle des Klosters.
Dabei passierte er offene Türen, die zu leerstehenden Zellen führten. Hunderte mussten es sein, die schon seit langer Zeit nicht mehr bewohnt waren. Ganze Stockwerke in dem uralten Bauwerk standen leer und es mussten bereits große Mühen unternommen werden, um der fortschreitenden Baufälligkeit Einhalt zu gebieten. Niemand sprach es aus, aber jeder wusste es: Der Orden war früher einmal deutlich größer gewesen und heute eigentlich nur noch ein Schatten seiner selbst. Eine Tatsache, die Ankartho angesichts ihrer Aufgabe sehr beunruhigte.
Wenig später erreichte er die Halle der Versammlung, einen mehrere Stockwerke hohen Kuppelsaal, dessen Decke sich in der Mitte zu einem Längsgiebel verjüngte. Der Boden war mit Teppichen ausgelegt, auf denen bereits die Mehrheit der Ordensmitglieder im Schneidersitz platzgenommen hatte. An der Stirnseite des Saals, vor dem alten, fleckigen Gobelin, der einen Wächter in Kampfstellung zeigte, standen Ogas Nim, sein Stellvertreter Falin und über ein Dutzend weitere der älteren Ordensleute. Neben ihnen erhob sich der drei Schritte hohe Gong, mit dem die Versammlung eingeläutet worden war.
Langsam begab sich Ankartho nach vorn und setzte sich zu den Ordensmitgliedern, die er seine Freunde nannte. Da war Sanholi, einer von siebzehn Söhnen eines Herrschers aus dem Schilfmeer weit im Südwesten. Ebbeba, der behauptete, ein Bastard König Kolgmars von der Insel Hakhe zu sein. Und Niftha, eine Shaozhin aus dem Hause Oshirugashai, das über einen Teil der Perleninseln des Türkismeeres herrschte.
Alle hier hatten königliches Blut in sich. Das war die Grundvoraussetzung, um in den Orden aufgenommen zu werden.
Seine drei Freunde nickten Ankartho zu, als er sich neben ihnen niederließ. Auch sie schienen neugierig, was der Grund ihrer Zusammenkunft war, denn sie sprachen kaum etwas, sondern blickten unruhig nach vorn. Die Stimmung war ernst, fast schon angespannt.
Ein paar Augenblicke später, als sich endlich der letzte Bewohner des Klosters zu ihnen gesellt hatte, trat Ogas Nim vor und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Schlagartig verstummten alle Gespräche und die Anwesenden wandten ihre Aufmerksamkeit dem Ishiden zu, dessen Gesicht viel ernster wirkte, als zu manch anderer Gelegenheit zuvor.
»Brüder und Schwestern!«, hob er mit seiner kräftigen Stimme zu sprechen an. »Wir haben euch zusammengerufen, weil in der Welt dort draußen beunruhigende Dinge vor sich gehen. Es scheint, als sei die Zeit gekommen, unserem Schicksal gegenüber zu treten!«
Er begann, ein paar Schritte hin und her zu gehen, während er fortfuhr.
»Aus Ychis erreicht uns die Nachricht, dass ein geheimnisvoller Mörder alle sieben Kinder des Raja niedergemetzelt hat, zusammen mit ihren Kinderfrauen und einer ganzen Reihe von Bewaffneten, die für ihre Sicherheit sorgen sollten. Laut den Gerüchten kam der Ättentäter von den Perleninseln, denen Ychis nun den Krieg erklärt hat!«
Leises Gemurmel brach aus. Einige der Anwesenden wechselten besorgte Blicke oder schauten zu Niftha, die sichtlich bestürzt über diese Neuigkeiten war. Doch der Ordensoberste achtete nicht darauf. Scheinbar gab es noch mehr schlechte Nachrichten.
»Vor einigen Tagen hat ein Unbekannter den artanischen Thronfolger getötet. Es heißt, er hinterließ eine Nachricht mit Grüßen aus dem westlich davon gelegenen Herdrinland. Der Kaiser der Artanen wird nun wohl sehr wahrscheinlich seine Truppen dorthin entsenden. Ein weiterer Krieg, der nicht mehr abzuwenden ist!«
»Es beginnt also wirklich!«, rief jemand irgendwo links von Ankartho.
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