Die Wahrheit war, dass ich eben kaum etwas anderes kannte, als das hier. Meine Eltern waren gestorben, als ich noch ein Baby gewesen war. Es war ein Unglück gewesen. Ein Feuerwehrmann hatte mich als Einzige aus dem brennenden Haus gerettet; ich hatte als Einzige das Flammeninferno überlebt … sogar ohne große Verbrennungen. Das Wunder meiner Rettung war sogar durch alle Londoner Zeitungen gegangen – Familie stirbt bei Hausbrand – sechs Monate altes Baby überlebt! Ein münzgroßes Feuermal über dem Bauchnabel war das Einzige, was mich an das Unglück meiner frühen Kindheit erinnerte.
Als Kind hatte ich mir manchmal gewünscht, ich wäre mit meiner Familie gestorben. Es war schwer gewesen, in dem Wissen aufzuwachsen, dass es außerhalb dieser Klostermauern niemanden gab, zu dem ich gehörte oder der auf mich wartete. Ich war so allein auf der Welt, wie man nur sein konnte. Als ich dann Phil während des Studiums traf, hatte ich gedacht, dass mein Leben sich ändern könnte … dass ich nicht mehr alleine sein müsste … leider hatte die Sache zwischen Phil und mir nicht funktioniert.
Das war der eigentliche Grund, weshalb ich noch hier war ... hier gab es die Nonnen, auch wenn ich sie nicht als Familie bezeichnet hätte. Doch sie gaben mir Sicherheit ... vor allem, seit diese Träume mich verfolgten, über die ich mit niemandem reden konnte … noch nicht einmal mit Sarah! Es war immer der gleiche Traum. Ich stand nackt an einem Fluss, orientierungslos, überall um mich herum war Wasser. Dann tauchte ein Mann auf; und ich wollte ihn so sehr, wie ich noch keinen gewollt hatte!
Er war groß, fast ein Riese, mit ungewöhnlich dunklen Augen und einem männlichen Gesicht … und er trug hüftlanges Haar! Welcher Mann trug sein Haar hüftlang? Ich hatte noch nie eine Vorliebe für Männer mit langen Haaren – warum also träumte ich ständig von einem?
Eigentlich geschah dann immer das Gleiche. Er packte mich – wir fielen zusammen auf den harten Boden. Er beugte sich über mich, ich schlang meine Schenkel um seine Hüften … und dann hörte ich seine Stimme nah an meinem Ohr … sanft und verlockend. „Willst du mich, Lauren?“ Immer stand seine verlockende Stimme im Gegensatz zu dem Unbehagen, das mir dieser Mann bereitete.
Doch obwohl dieser Fremde mir Angst machte, antwortete ich immer mit „Ja!“ Und dann wachte ich auf ...
Ich hatte gehofft, die Träume würden irgendwann verschwinden, aber in der letzten Zeit träumte ich immer öfter von diesem fremden Mann ...
Wir waren am Refektorium angekommen. Es gab eine winzige, wenn auch unrealistische Chance, dass Sarah Schwester Eugenie entkam, wenn sie möglichst unauffällig zu ihrem Platz ging. „Ich versuche, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken“, schlug ich vor.
Wir betraten den Speisesaal. Dreihundert Mädchen in dunkelblauer Tracht saßen leise flüsternd beim Frühstück. Schwester Eugenie war nirgendwo zu sehen. Das ließ mich hoffen.
„Oh nein ...“, stöhnte Sarah, als Schwester Eugenie plötzlich direkt auf uns zukam. Sie war so hager, wie Schwester Benice rund war. Sie musterte zuerst Sarah, dann mich. „Etwas spät, oder Miss Brown?“
Sarah senkte den Blick. Ich wollte mich für sie einsetzen, doch Sarah kniff mir in den Arm. Also sagte ich nichts. Doch anstatt sich auf Sarah zu stürzen, wandte Schwester Eugenie sich an mich. „Lauren … die Äbtissin wünscht Sie noch zu sprechen, bevor wir nach London aufbrechen.“
Mir stieg ein Klos in den Hals. Ich konnte mir gut vorstellen, was die Äbtissin wollte … Haben Sie über meinen Vorschlag nachgedacht? Wäre es nicht das Beste für Sie, wenn sie die Gelübde ablegen?
„Ich gehe gleich zu ihr … vielen Dank, Schwester“, antwortete ich. Eugenie nickte und ging zurück zu den anderen Schwestern.
„Du hast mich gerettet … auch wenn die Rettung auf deine Kosten geht“, gab Sarah seufzend zu. Wir verabschiedeten uns – sie ging zu ihrem Platz und ich machte mich auf den Weg zur Äbtissin. Es wäre besser, den unangenehmen Besuch so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.
Lustlos lief ich den Kreuzgang der Klosteranlage zurück bis zum Ende, wo sich die neuen Anbauten der Abtei anschlossen – das Mädchenhaus, die Dusch- und Toilettenräume, die Wirtschaftsräume und das Büro der Äbtissin. Auf halben Weg blieb ich vor einer Fensterscheibe stehen und prüfte mein Spiegelbild. Ordnung war das Credo der alten Heuschrecke … ich steckte eine herausgefallene Haarsträhne zurück in meinen Pferdeschwanz und strich den Stoff meines Rockes und meiner Bluse glatt.
Dabei vermied ich den Blick in mein Gesicht. Es kam mir in letzter Zeit immer fremder vor. Wer war ich eigentlich? Ich war mir selbst ein Rätsel.
Vor dem Büro der Äbtissin musste ich warten. Ich zuckte zusammen, als die schwere Eichenholztür sich mit einem lauten Knarren öffnete. Ein Mädchen warf mir einen gequälten Blick zu und ging dann mit gesenktem Kopf davon. Ein Besuch beim Hausdrachen war immer unangenehm.
Ich betrat das Büro und wappnete mich innerlich. An der Wand hinter der Äbtissin hing eine Figur des heiligen St. Michael, jenes Erzengels, welcher der Schutzheiligen des Klosters, Luzia angeblich als Kind erschienen war. Eine Figur von Luzia stand auf einem Tisch an der Wand, davor eine brennende Kerze. Heute war der Tag der Heiligen Luzia, deshalb auch der Ausflug in die Westminster Abbey.
„Setz dich, Lauren.“
Ich setzte mich auf den eierschalfarbenen Kunststoffstuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Er war unbequem, und ich argwöhnte nicht zum ersten Mal, dass dies beabsichtigt war.
Die Äbtissin wirkte alterslos in ihrem Habit und hätte vierzig oder auch sechzig Jahre alt sein können. „Du bist eine gute Lehrerin, Lauren. Die Mädchen mögen dich, und es gibt keine Beschwerden … nun ja, außer, dass du zu einem der Mädchen … Sarah … eine zu persönliche Beziehung aufgebaut hast. Freundschaften zwischen dem Lehrpersonal und den Schülerinnen sind nicht gern gesehen. Allerdings wird Miss Brown uns im nächsten Jahr verlassen, wenn sie volljährig wird, deshalb sehe ich darüber hinweg.“ Als kenne sie meine Personalakte nicht in und auswendig, zog die Äbtissin eine graue Pappkladde aus der Schublade und schlug sie auf. „Du hast dein Studium mit sehr guter Abschlussnote abgelegt, und du warst auch bei uns immer eine herausragende Schülerin.“ Sie faltete die Hände.
Ich rutschte unruhig auf dem Plastikstuhl herum, schlug meine Beine über, und stellte sie dann schnell wieder geschlossen nebeneinander. „Vielen Dank.“
Ihr Lächeln machte mich nervös. „Aber du musst verstehen, dass meine Möglichkeiten als Äbtissin dieses Ordens begrenzt sind. Der Bischof möchte, dass wir Lehrkräfte beschäftigen, die den Schleier tragen. Ich kenne dich fast seit deiner Geburt, Lauren. Wenn es nach mir geht, steht dir die Stelle hier natürlich auch ohne Gelübde offen. Aber vielleicht ist dies der Weg, den Gott sich für dich wünscht … die Prüfung, die du bestehen sollst ...“ Sie warf einen Blick auf die Figur des Erzengels Michael, der sein Schwert in die Höhe reckte. „Die Engel wachen über diejenigen, die sich ihnen zuwenden, Lauren. Alle anderen sind verloren.“ Sie stand auf und kam um den Schreibtisch herum auf mich zu.
Jetzt wurde das Gespräch richtig unangenehm. Die Äbtissin glitt manchmal in einen Zustand, den die Schülerinnen als vollkommen bescheuert , und die Ordensschwestern als heiligen Wahnsinn bezeichneten. Sie musterte mich mit einem solch fremden Blick, dass mir ein Schauder über den Rücken lief. Ihre Stimme nahm einen beschwörenden Klang an. „Du musst beten, Lauren ... du musst den heiligen Michael um Beistand anflehen … weil du noch viel mehr gefährdet bis als jedes andere Mädchen hier, den Pfad der Engel zu verlassen.“
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