Als ich kurze Zeit später die Tür meines Zimmers hinter mir schloss, konnte ich sehen, dass Sarah noch immer nicht wach war. Alle Mädchen liefen eilig über den Flur, doch ihre Tür war noch immer geschlossen. Sie hatte jetzt schon das dritte Mal diese Woche verschlafen. Wenn Benice das erfuhr, wäre der Ausflug nach London für Sarah gestrichen. Ich ging zu ihrer Tür und klopfte.
„Eine Minute noch … verflucht ...“, antwortete Sarah genervt.
„Sarah … du sollst nicht fluchen. Wenn Schwester Benice dich hört, bekommst du Ärger.“
„Ach, du bist es, Lauren. Komm rein … ich dachte, es wäre einer der Pinguine.“
Ich schlüpfte ins Zimmer. Sarah drückte sich das Kopfkissen auf ihr Gesicht. Das frühe Aufstehen fiel ihr schwer.
Schwester Benices runder Kopf mit dem dunklen Schleier erschien plötzlich in der Tür. Sie war streng und unfreundlich, doch im Gegensatz zu Schwester Eugenie, die bei den Mädchen als hinterhältig und boshaft galt, harmlos. „Sarah, mach schon … sonst bleibst du hier“, polterte sie ungehalten. „Und ich erzähle der Äbtissin, dass du schon dreimal in dieser Woche verschlafen hast.“
Sarah sprang aus dem Bett, und Benice nickte zufrieden. „Wenn ich dich in fünfzehn Minuten nicht im Refektorium sehe, gibt es für dich keinen Ausflug nach London.“ Sie warf mir einen tadelnden Blick zu. „Sie sollten ein wenig mehr Distanz zu den Mädchen halten, Lauren. Sie sind keine Schülerin mehr.“ Dann war sie verschwunden.
„Diese Kuh!“ Ein paar derbe Flüche murmelnd, suchte Sarah ihre Sachen zusammen. „Warum lassen uns die Schleierschwitzer nicht wenigstens ab und zu ausschlafen? Nicht einen einzigen Tag ... noch nicht einmal sonntags!“ Sie redete sich in Rage, und ich ließ sie. Immerhin wurde Sarah so endlich wach. Sie war fast achtzehn und konnte den Tag nicht erwarten, an dem sie das Internat endlich verlassen konnte. Ihre Eltern hatten Sarah vor gut einem Jahr hier abgeliefert – sie kamen mit ihr nicht mehr klar, weil Sarah ihnen zu rebellisch war. Seltsamerweise hatten Sarah und ich ab dem ersten Tag einen Draht zueinander gehabt. Sie war respektlos, dreist, rauchte heimlich und trank Alkohol, wenn sich ihr eine Gelegenheit dazu bot. Kurz gesagt … Sarah war so, wie ich in ihrem Alter gerne gewesen wäre. Aber die Erziehung, die ich von frühester Kindheit im Kloster erhalten hatte, war schwer abzulegen. Meine Studienzeit hatte mich zwar das ein oder andere ausprobieren lassen … doch so unbekümmert wie Sarah würde ich nie werden.
„Wenn ich achtzehn werde, bin ich weg. Ehrlich … Lauren … ich kann nicht verstehen, warum du nach deinem Studium zurückgekommen bist. Hier bist du doch lebendig begraben! Du hättest nach London gehen können und dir einen oder mehrere hübsche Lover suchen ...“
Ich ging zum einzigen Fenster des Zimmers, während Sarah sich anzog. Die Fenster im Mädchenwohnheim stammten mindestens aus den 1970er Jahren und waren undicht, sodass sich Kondenswasser auf der Scheibe bildete, wenn es regnete. So war es auch heute. Mit dem Finger malte ich die Silhouette eines Vogels an die beschlagene Scheibe. Wäre es doch so einfach gewesen. Wie gerne wäre ich meinen Träumen oder dem Internat entkommen. Aber mir fehlte einfach der Mut. Ich sah hinauf in den trüben Himmel. Es war Anfang August, doch der Sommer war verregnet.
„Wenn du weiter vor dich hinträumst, wirst du nie hier raus kommen. Dann haben dich die frommen Schwestern bald genauso weit wie Anne. Du trittst ihrem Orden bei und verrottest als Eiserne Jungfrau.“
Ich musste lachen. „Wie kommst du darauf, dass ich noch Jungfrau bin?“
Gespielt entsetzt riss Sarah die Augen auf. „Etwa nicht? Oh Gott … lass das ja nicht die frommen Schwestern wissen. Wer war es? Der pickelige Paul? Sonst gibt es doch hier keine Männer.“
Sarah zog mich gern auf. Meine alte Zimmergenossin, Anne, hatte sich tatsächlich im letzten Jahr dazu entschlossen, Nonne zu werden, obwohl sie nie gläubig gewesen war. Aber so etwas passierte gar nicht so selten. Wenn man zu lange in dieser abgeschlossenen Welt lebte, fürchtete man, in der richtigen Welt nicht mehr zurechtzukommen. Dann blieb man einfach und ergab sich in sein Schicksal.
Während Sarah in die gehasste Internatstracht schlüpfte – blickdichte Strumpfhosen, ein überknielanger Rock, Wollpulli und flache Schuhe ... alles in Dunkelblau gehalten, band ich mir mein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. „Paul … um Himmels Willen. Im Studium hatte ich einen Freund … Phil ...“
Sarah trat hinter mich, mit ihrer eigenen Lockenmähne kämpfend. „Du hast es gut mit deinem Haar und deiner Schneewittchenhaut.“ Sie nahm eine Strähne meines Haar und hielt sie gegen das Licht. Dann ließ sie die kastanienbraune Strähne durch ihre Finger gleiten. „Einen Stich Rot ... allein dafür hätten dich die guten Schwestern und der Bischof von London früher als Hexe gehenkt oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“ Sie seufzte, während sie ihr krauses Blondhaar gegen meine leuchtende Strähne hielt. „Wenn wir wenigstens Make-up benutzen dürften. Ich sehe aus, wie ausgekotzt!“
„Stimmt doch gar nicht. Blondes Haar ist beliebt bei Männern, rotes Haar nicht.“
„Hm, meinst du?“ Sarah klang etwas versöhnlicher, und ich beeilte mich, zu nicken. Sarahs respektloses Gerede war ihre Art, gegen die Erziehungsmaßnahmen der Schwestern zu rebellieren. Eigentlich war sie viel zu jung, um mit ihr befreundet zu sein – aber das hatte weder sie noch mich je gestört. Vor den Schwestern und im Klassenzimmer mussten wir Lehrerin und Schülerin sein. Das war nicht immer einfach. Aber bisher hatte es ganz gut funktioniert.
Als Sarah fertig angezogen war, machten wir schnell ihr Bett, räumten ihr Zimmer auf, und liefen dann über den Flur des Wohnheims Richtung Kreuzgang, wo der mittelalterliche Klostertrakt begann. Niemand begegnete uns, die anderen Mädchen saßen längst beim Frühstück.
Auf dem Kosterhof gingen wir langsamer. Hier verbrachten wir gerne Zeit - vor allem jetzt, wo der Hibiskus und die alten englischen Duftrosen blühten. Vor allem ich liebte den Klosterhof und hatte nicht wenig Anteil daran, dass er sich im Laufe der letzten Jahre vom schmucklosen Hof in einen blühenden Garten verwandelt hatte. Immer wenn die Äbtissin sich darüber beschwerte, dass der Garten zu unzweckmäßig für ein Kloster sei, konterte ich mit dem Argument, dass der Garten Eden ja schließlich auch nur schön und nutzlos gewesen sei. Meist schwieg die Äbtissin dann verärgert, betrachtete den Garten aber andächtig. Jeder neue Rosenstrauch, den ich pflanzte, gab der Diskussion über den angeblich nutzlosen Garten neuen Zunder. Doch hier setzte ich mich seltsamerweise immer durch. Ich war stolz auf meinen kleinen Paradiesgarten.
Sarah hatte an diesem Morgen weder einen Blick für die Rosen noch für die Hibiskussträucher übrig. „Bin ich froh, wenn ich endlich volljährig bin.“ Sie zog die Lippen kraus und sah mich mit einem ihrer typischen Ich versteh dich einfach nicht-Blicke an. „Was hält dich eigentlich hier? Doch nicht der Garten?“
„Ich weiß nicht ...“ gab ich ihr ausweichend zur Antwort. Ich ärgerte mich selbst über meine Unentschlossenheit. Eigentlich wäre ich lieber heute als morgen gegangen und hätte mir in London einen Job gesucht. Ich besaß überdurchschnittlich gute Qualifikationen. Da ich ein Überflieger in der Schule gewesen war, hatte der Bischof einem Lehramtsstudium zugestimmt – natürlich mit dem Hintergedanken, dass ich nach meinem Studium im Internat unterrichten würde. So weit so gut – doch in der letzten Zeit versuchte mich die Äbtissin zu überreden, die Gelübde abzulegen. Das wäre ein Grund mehr gewesen, mich endlich nach etwas anderem umzusehen. Ich ertappte mich immer wieder bei der Ausrede, dass ich einfach warten würde, bis Sarah das Internat verließ.
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