J. S. Fletcher - Mord in Middle Temple

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London 1912: Der junge Journalist Frank Spargo kommt zufällig dazu, als die Polizei ausgerechnet im Anwaltsviertel Middle Temple die Leiche eines Mannes findet. Es gibt keinerlei Hinweise auf die Identität des Toten. Die Adresse eines frisch gebackenen Anwalts ist das Einzige, das die Polizei bei der Leiche findet. Alles deutet auf Raubmord hin. Spargo glaubt nicht an diese Theorie. Sein journalistischer Ehrgeiz ist geweckt: er will den Fall trotz der spärlichen Hinweise lösen.
Schon bald offenbaren sich dunkle Geheimnisse aus der Vergangenheit und Spargo sieht sich mit einer Reihe falscher Identitäten konfrontiert. Als der Vater der jungen Frau, in die Spargo verliebt ist, unschuldig verhaftet wird, muss Spargo nicht nur aus beruflichem Interesse unbedingt den wahren Täter finden.

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Mord

in

Middle

Temple

J. S. Fletcher

Originaltitel: The Middle Temple Murder

Deutsche Originalausgabe:

Das Geheimnis um Mr. Marbury

Peter J. Oestergaard Verlag, 1931

Digitalisierung, Überarbeitung, Aktualisierung der Übersetzung sowie Umschlaggestaltung:

Julia Evers, 2017

Foto: Max de Rohan Willner/ Unsplash

alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Kapitel 1

kapitel 2

kapitel 3

Kapitel 4

kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Über den Autor

KAPITEL 1

Spargo verließ die Redaktion des Watchman gewöhnlich um zwei Uhr nachts, wenn die Morgenausgabe im Druck war. Er hatte nichts mehr zu tun, wenn er den Teil der Zeitung durchgesehen hatte, für den er verantwortlich war. Vor kurzem erst war er Hilfsredakteur geworden. Er hätte eigentlich schon eher nach Hause gehen können, aber er hatte sich nun einmal angewöhnt, bis etwa gegen zwei Uhr im Büro zu bleiben.

Am Morgen des 22. Juni 1912 blieb er sogar länger als gewöhnlich und plauderte noch mit seinem Kollegen Hacket, der die auswärtige Politik bearbeitete, über eingegangene interessante Telegramme. Es war schon halb drei, als er endlich auf die Fleet Street hinaustrat. Die Luft war frisch und kühl, und im Osten kündete sich bereits die Morgendämmerung leise an. Die Stadt lag in tiefem Schweigen, majestätisch hob sich die Silhouette der St. Paul´s Cathedral vom Himmel ab.

Spargo wohnte in Bloomsbury, auf der Westseite des Russell Square. Jeden Abend und jeden Morgen ging er durch dieselben Straßen zur Redaktion: Southampton Row, Kingsway, Strand, Fleet Street. Im Laufe der Zeit waren ihm eine Reihe von Gesichtern vertraut geworden: vor allem kannte er die Polizisten, die auf dieser Strecke Dienst hatten, und grüßte sie, wenn er Pfeife rauchend seines Weges ging.

Als er an diesem Morgen in die Nähe der Middle Temple Lane kam, sah er den Polizisten Driscoll am Eingang eines Hauses stehen. Der Mann schien irgendetwas zu beobachten. Etwas weiter entfernt tauchte ein anderer Beamter auf, dem Driscoll mit erhobenem Arm ein Zeichen gab. Dann drehte er sich um und erkannte Spargo. Er ging ein paar Schritte auf ihn zu.

„Was gibt es denn?“, fragte Spargo.

Driscoll zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf ein halb geöffnetes Tor. Spargo schaute hinein und sah, dass ein Mann dort hastig Jacke und Weste anzog.

„Der Portier da sagt, dass jemand hinter einer der Haustüren liegt. Er hält ihn für tot. Hat mir sogar erzählt, dass er an einen Mord glaubt.“

„Mord?“, fragte Spargo schnell. „Wie kommt er denn zu der Ansicht?“ Neugierig schaute er an Driscoll vorbei.

„Er hat Blutspuren gesehen. Sie sind doch von der Zeitung?“

„Ja.“

„Dann kommen Sie mit uns - wahrscheinlich können Sie einen interessanten Artikel über die Sache schreiben.“

Spargo antwortete nicht. Er blickte nur verwundert die Gasse hinunter. Welches Geheimnis mochte sie bergen? Nun war auch der andere Polizist herangekommen und im selben Augenblick trat der Portier aus der Tür.

„Also kommen Sie. Ich werde es Ihnen zeigen.“

Driscoll wechselte ein paar Worte mit seinem Kollegen, dann wandte er sich an den Portier.

„Wie kam es, dass Sie ihn gefunden haben?“

Der Mann wies mit dem Kopf auf eine Tür. „Ich hörte, wie sie zugeschlagen wurde“, sagte er aufgeregt, als fühlte er sich durch die Frage des Polizisten beleidigt. „Das kam mir sonderbar vor. Ich bin aufgestanden und habe mich umgesehen und dann habe ich ihn entdeckt.“

Er zeigte auf eine bestimmte Stelle. Spargo sah den Fuß eines Mannes, der aus einem der Eingänge herausschaute. Deutlich konnte er den Schuh und den grauen Strumpf erkennen.

„Er lag genauso da, wie Sie ihn jetzt noch sehen. Ich habe ihn nicht angerührt.“

Er sprach nicht weiter, sondern verzog das Gesicht bei der Erinnerung an seinen ersten Schrecken. Driscoll nickte verständnisvoll.

„Sie sind also aufgestanden und haben sich umgeschaut?“

„Ja, und als ich das Blut sah, bin ich schnell auf die Straße gegangen, um einen Polizisten zu holen.“

„Das Beste, was Sie tun konnten“, erwiderte Driscoll.

Sie waren jetzt an dem Eingang angekommen und blieben stehen. Der Schauplatz selbst wirkte ziemlich nüchtern, die Wände waren mit Fliesen verkleidet, der Boden bestand aus Beton. In dem kühlen, grauen Morgenlicht erinnerte die Szene Spargo fast an eine Leichenhalle. Es war deutlich zu erkennen, dass der Mann, der dort lag, nicht mehr lebte.

Im ersten Augenblick sprach niemand. Die beiden Polizisten schoben unbewusst die Daumen in den Ledergürtel und spielten nervös mit den Fingern. Der Portier rieb sich nachdenklich das Kinn. Spargo hatte die Hände in die Taschen gesteckt und klapperte mit seinen Hausschlüsseln. Jeder machte sich seine eigenen Gedanken beim Anblick dieses Toten.

„Sie sehen“, sagte Driscoll plötzlich leise, „dass er eine ganz merkwürdige Lage hat. Es sieht fast so aus, als wäre er dort hingelegt worden. Vielleicht hat er zuerst an der Wand gelehnt und ist dann herunter gerutscht.“

Spargo beobachtete alle Einzelheiten mit berufsmäßigem Interesse. Er sah zu seinen Füßen einen gutgekleideten, älteren Mann liegen, dessen Gesicht der Wand zugekehrt war. An den grauen Haaren und dem fast weißen Bart ließ sich sein Alter ungefähr abschätzen. Der graukarierte Anzug und die dazu passenden Schuhe verrieten guten Geschmack, ebenso die Wäsche. Das eine Bein war halb untergeschlagen, das andere lag ausgestreckt quer über der Türschwelle. Der Oberkörper lehnte gegen die Wand, und an den weißen Fliesen waren Blutspuren zu sehen.

Driscoll zog die Hand aus dem Gürtel und zeigte auf den Toten. „Er muss wohl von hinten niedergeschlagen worden sein, als er hier herauskam. Das Blut floss aus seiner Nase, als er stürzte. Was meinst du dazu, Jim?“

Der andere Polizist räusperte sich. „Wir sollten lieber den Inspector herholen. Und einen Arzt und eine Ambulanz. Er ist doch tot, nicht wahr?“

Driscoll bückte sich und berührte die Hand, die auf dem Boden lag. „Daran ist gar kein Zweifel, er ist schon ganz steif. Also beeil dich mit deiner Meldung auf dem Revier.“

Spargo wartete bis der Inspector kam und eine Tragbahre gebracht wurde. Es waren auch noch mehrere Polizisten erschienen. Sie hoben den Toten auf, um ihn zum Leichenschauhaus zu bringen. Dabei konnte Spargo das Gesicht des Toten sehen. Er betrachtete es lange und aufmerksam, während die Beamten noch beschäftigt waren. Wer mochte dieser Mann sein? Wie war er zu diesem schrecklichen Ende gekommen? Warum hatte man ihn ermordet? Alle diese Fragen gingen ihm durch den Kopf. Als Zeitungsmann interessierte ihn der Fall natürlich, aber es mischte sich auch ein allgemein menschliches Empfinden in seine Gefühle und er bedauerte, dass einer seiner Mitmenschen auf so tragische Weise ums Leben gekommen war. Die Züge des Toten waren regelmäßig, aber er konnte nichts Besonderes daran entdecken. Der Mann mochte zwischen sechzig und fünfundsechzig Jahre alt sein. Er war glattrasiert und trug einen kurzen, weißen Backenbart, der auf altmodische Weise bis zur Hälfte zwischen Ohr und Kinn herunterreichte. Das einzig Auffallende an dem schlichten Gesicht waren die vielen Falten und Runzeln. Besonders tief hatten sie sich um die Mundwinkel und um die Augen eingegraben. Diesem Mann hatte das Leben sicher schwer mitgespielt und er hatte sowohl körperlich als auch seelisch einiges durchgemacht.

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