„Was wollte er?“, fragte van Cliff neugierig.
„Sein Hausmädchen Sylvia will den Mann gesehen haben, der den Forellenteich verseucht hat, sagt Hans. Ich fahr´ am Nachmittag zu ihr.“
„Sie hat was?!“
„Sie hat den Kerl mit den Wasserkillern gesehen und will mir die Story verkaufen.“
„Aber Tanja!“, rief van Cliff aufgeregt. „Dann kann sie Ihnen eine Beschreibung des mutmaßlichen Erpressers liefern. Ist Ihnen das eigentlich klar?“
„Und ob mir das klar ist. Ich fahre sofort nach Hamburg in meine Redaktion und mache alles für meinen Bericht klar. Sylvias Aussage und die Erpressung sichern mir die Titelseite.“
„Mein Gott! Sie haben es wirklich geschafft! Sie werden berühmt“, flüsterte van Cliff beeindruckt.
„Es scheint so. Bartels wird sich vor Wut und Neid in den Allerwertesten beißen, falls er dazu elastisch genug ist“, erwiderte Tanja grinsend. „Machen Sie´s gut, Henrik. Bis heute Abend“, verabschiedete sie sich und eilte davon.
Tanjas Besuch in der Redaktion war ein voller Erfolg. Ein erstaunlich kooperativer Bartels stimmte ihren Wünschen und Forderungen in vollem Umfang zu und erklärte sich bereit, die Titelseite der morgigen Ausgabe für sie freizuhalten.
Beschwingt machte sich Tanja auf den Rückweg nach Harsefeld, wo das Hausmädchen Sylvia mit hoffentlich weiteren Sensationen auf sie wartete.
Da sie es eilig hatte, wählte sie die Autobahn als Zubringer und fuhr in Rade auf die Bundesstraße 73. Kaum vierzig Minuten später erreichte sie das Anwesen von Hans Schmock und parkte ihren Wagen vor dem reetgedeckten Haus.
Er musste sie gehört haben, denn als sie ausstieg, trat Hans aus dem Haus. „Kommen Sie“, sagte er und steuerte auf einen Anbau zu, in dem sein Personal wohnte.
Sie betraten das Gebäude und stiegen eine massive Holztreppe zu einer Empore hinauf, von der etliche dunkelgrün lackierte Türen abgingen. Vor der letzten Tür blieben sie stehen. Hans klopfte. Doch niemand meldete sich.
„Sylvia?! Sylvia, mach auf. Die Journalistin aus Hamburg ist hier.“
Keine Antwort!
„Nun mach schon auf, Sylvia. Wir haben keine Lust, hier draußen rumzustehen“, verlangte Hans ungeduldig.
Doch hinter der dunkelgrünen Holztür rührte sich nichts.
„Wo ist das dumme Ding bloß? Sie wollte hier auf Sie warten, jedenfalls hat sie das gesagt“, schimpfte Hans.
„Vielleicht ist sie im Garten oder am Teich. Kommen Sie, wir suchen sie“, schlug Tanja vor. „Sie will doch Geld von mir, da wird sie sich bestimmt nicht weit entfernt haben.“
Sie stiegen die Treppe wieder hinab und traten ins helle Tageslicht hinaus. Und erstmals fiel Tanja die unnatürliche Stille auf. Kein Vogel sang. Kein Lüftchen regte sich. Es war so still, als hielte die Welt den Atem an. Tanja fröstelte trotz der Wärme.
Auch Hans fühlte sich nicht wohl „Wieso ist es so still?“, fragte er. „Selbst mein Bernhardiner Bosko lässt sich nicht sehen. Bosko?! Wo bist du, mein Kleiner? Komm zu Herrchen“, lockte Hans. Doch kein Bosko kam angelaufen. „Das verstehe ich nicht. Sonst kommt er, sobald ein Fremder das Grundstück betritt“, sagte Hans beunruhigt.
Während er sprach, hatten sie den Hof überquert und sich den Stallungen genähert. Eine breite Schleifspur erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie endete vor einem hohen Holzstapel. Zögernd gingen sie um das gestapelte Holz herum.
UND DA WAR BOSKO!
Irgendjemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten! Tanja schluckte und hielt mühsam die Tränen zurück. „Mein Gott! Bosko!“, flüsterte Hans und hockte sich neben seinen toten Hund. „Mein armer Junge, wer hat dir das nur angetan? Er war mein bester Freund“, schluchzte er und streichelte das dichte, weiche Fell.
Tanjas Gedanken summten wie ein Bienenschwarm hinter ihrer Stirn. Wer hatte den armen Hund getötet und warum? Und wo war Sylvia? Hatte Boskos Tod etwas mit dem Verschwinden der Frau zu tun? Musste er sterben, weil er die Frau beschützen wollte?
Aber wovor beschützen? Natürlich vor dem Mörder. Das war doch klar. Aber weshalb sollte jemand ein harmloses Hausmädchen töten wollen? Und plötzlich wusste sie es, wusste so genau was passiert war, als sei sie dabei gewesen.
Der Mörder hatte Sylvia aus dem Haus gelockt. Sie waren dem Bernhardiner begegnet der instinktiv die Gefahr erkannte und zu Hilfe eilte. Der Erpresser hatte ihn kaltblütig umgebracht. Das Opfer seiner grausigen Tat lag vor ihnen.
Und was war mit Sylvia geschehen?
„Hans, wir müssen nach Sylvia suchen“, drängte Tanja und rüttelte ihn an der Schulter. „Vielleicht hatte der Mörder es auf sie abgesehen und Bosko kam ihm dazwischen.“
Hans stand auf und sah sie an. „Sie glauben, ihr ist auch etwas zugestoßen?“
Tanja nickte. „Wohin könnte sie gegangen sein?“
„Dieser Weg führt zwar zum Forellenteich, aber was sollte sie dort wollen? Dort ist es nicht mehr besonders schön, nachdem, was dort mit meinen Forellen und dem Wasser geschieht.“
„Trotzdem sehen wir uns dort besser mal um“, sagte Tanja energisch. Niedergeschlagen trottete Hans ihr hinterher.
Wieso war sie sich eigentlich so sicher, dass dem Hausmädchen etwas zugestoßen war? Konnte sie nicht ebenso gut im Schatten eines Baumes sitzen und ein Buch lesen oder auch gar nichts tun? Einfach nur die Zeit vergessen und zufrieden die Schönheit des Augenblicks genießen?
Nein, sagte ihr eine innere Stimme. Sie ist tot oder befindet sich zumindest in großer Gefahr. Sie behielt den Weg und das dichte Gebüsch im Auge, das zu beiden Seiten wuchs. Und doch hätte sie fast das winzige Stückchen Stoff übersehen, das sich im dornigen Gestrüpp verfangen hatte, wäre Hans nicht bei ihr gewesen.
„Es ist ein Stück von Sylvias Bluse!“, rief Hans erschrocken. „Sie hat sie heute zum ersten Mal angehabt und war sehr stolz darauf, deshalb weiß ich das so genau.“
„Dann sind wir auf dem richtigen Weg. Kommen Sie!“, rief Tanja von plötzlicher Unruhe erfüllt. Die Frau war in Gefahr! Sie wusste es. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät! Sie rannten den Sandweg entlang, der sich unvermittelt in einem Wiesengrundstück verlor, in dem eingebettet der Forellenteich im sanften Nachmittagslicht lag.
Zögernd gingen sie weiter. Schritt für Schritt, bewegten sie sich auf das brodelnde Wasser zu, in dem die Wasserkiller eifrig Sand produzierten.
Tanja hielt die Augen starr auf den Teich gerichtet. Etwas unsagbar Böses ging von ihm aus, das sie bis ins Innerste ihrer Seele traf. Noch ein Schritt und noch einer und immer weiter auf das Wasser, auf das Böse zu. Plötzlich stolperte sie. Sie sah verwirrt zu Boden und ... begann zu schreien!
Sie schrie – und schrie – und schrie!
Ein harter Schlag auf die Wange brachte sie wieder zur Besinnung. „Oh, mein Gott!“, flüsterte sie kreidebleich. Am ganzen Körper zitternd starrte sie auf die tote Frau zu ihren Füßen, über deren Kopf sie gestolpert war. Ihr wurde übel. Sie taumelte zur Seite und übergab sich stöhnend.
„Sylvia!“, keuchte Hans. „Das ist Sylvia!“
Tanja drehte sich widerwillig um und starrte zitternd auf die Tote herab. Das Hausmädchen war tot, daran bestand kein Zweifel. Aber woran war sie gestorben? Äußerlich waren auf den ersten Blick keine gewaltsamen Verletzungen zu erkennen.
Der Frauenkörper lag zur Hälfte im Wasser, nur der Oberkörper und die Arme ragten heraus. Ihre wie skelettiert aussehenden Finger hatten sich in den Sand gekrallt.
Von Grauen erfüllt sah Tanja Sylvias rechten Ring- und Mittelfinger neben ihrer Hand liegen. Sie waren abgebrochen ! Irgendetwas hatte die Knochen so brüchig werden lassen wie bei einer Jahrtausende alten Mumie.
„Ihre Haare! Sehen Sie Ihre Haare!“, krächzte Hans kreideweiß im Gesicht.
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