Bernhard war wie vor den Kopf geschlagen.
„Wie bitte? Die Natur des Menschen? Millionen sinnlos zu massakrieren? Die Jugend des eigenen Volkes zu verheizen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“
„Vorsicht, so direkt darfst du es nicht nehmen. Was ich meine: Es gehört zur Natur des Menschen, ohne Sinn und Verstand zu handeln. Und das führt dann oft in die Katastrophe, siehe Erster Weltkrieg.“
„Aber ich bring doch auch nicht ohne Grund einfach meine Mitmenschen um.“
„Aber mit Grund schon?“
„Natürlich auch nicht!“
„Das will ich hoffen. Und warum tust du das nicht?“
Bernhard war verwirrt. Die Frage war doch einfach absurd.
„Das musst du doch am besten wissen. Man darf einfach nicht töten.“
„Siehste?“
„Ich versteh jetzt gar nichts mehr.“
„So schwer ist das doch nicht. Du sagst: ‚Man darf einfach nicht töten.‘ Ganz richtig. Aber woher weißt du das?“
Bernhard begann zu ahnen, worauf der Vater hinaus wollte. Doch er zögerte mit einer Antwort. So fuhr der Vater fort und begann zu dozieren: „Hast du jemals einen Menschen töten wollen und dann auf Grund logischer Erwägungen beschlossen, es nicht zu tun?“
„Ich? Nein.“
„Das bedeutet aber, auch du hast letztlich ohne Sinn und Verstand gehandelt, sondern auf Grund von Normen, die du durch Erziehung, gesellschaftliches Umfeld, Freunde, gute oder schlimme Erfahrungen et cetera in dich aufgenommen hast.“
„Aber damit kann man dann ja alles entschuldigen.“
„Nicht entschuldigen, sondern erklären. Das ist etwas grundsätzlich anderes. Ich habe in meinem Job schon mit einer Vielzahl von Verbrechen zu tun gehabt. Und jedes Mal stelle ich mir wieder die Frage nach dem Motiv, nach dem Warum. Wenn man da tief genug bohrt, kommt man eigentlich immer in einen Bereich, der mit Denken überhaupt nichts mehr zu tun hat.“
Bernhard war sehr nachdenklich geworden.
„Kann sich das jemals ändern?“
„Vielleicht, indem man anfängt, die Dinge auf eine andere Weise zu betrachten. Du hast dich entschieden, Geschichte zu studieren. Das freut mich, wie du weißt. Ich denke, gerade hier lässt sich besonders gut zeigen, was ich meine.“
„Nämlich?“
„Nehmen wir den Ersten Weltkrieg, denn der ist in der Tat ein besonders drastisches Beispiel. Was sich, so weit ich weiß, kaum in der Literatur findet, ist die Frage nach den verborgenen, nicht bewussten Normen, Idealen, Zwängen, die zu diesem aberwitzigen Desaster geführt haben. Man versucht immer, die Sache rational zu erklären. Da ist zunächst der Auslöser, das Attentat von Sarajewo, auf dem Hintergrund einer insgesamt angespannten politischen Lage. Dann werden die logischen Mechanismen beschrieben, wie daraus der große Krieg wurde. Aber das ist alles Unfug. Denn da war eben nichts logisch. Das Denken wurde nur dazu verwendet, die eigenen Vorurteile und vor allem verqueren Ehrbegriffe zu legitimieren. Denn für die, die wirklich nachgedacht haben, war damals schon klar: Was hier geschieht, ist Wahnsinn – und vor allem ein Verbrechen. Aber nicht nur die Führer der Nationen waren in diesen verheerenden Irrationalitäten gefangen, sondern auch das sogenannte einfache Volk. Hast du schon einmal historische Filmaufnahmen gesehen von den Soldaten, wie sie in den Krieg ziehen?“
„Nein.“
„Da hast du den Wahnsinn in Reinkultur. Es ist überhaupt nicht zu fassen, mit welcher Begeisterung, mit welchem Hurra und Tschingderassabum die damals Fähnchen schwingend auf die Schlachtfelder gezogen sind. Als ob es zum Jahrmarkt ginge. Forsche mal nach, was diese Menschen dazu getrieben hat, ihr Denken schlicht und einfach abzustellen und wie die Lemminge in den Tod zu rennen. Nur wenn wir diese Mechanismen durchschauen, können wir Wege finden, es besser zu machen.“
„Sollte ich da nicht besser Psychologie studieren?“
„Mindestens im Nebenfach. Ich verstehe ohnehin nicht, wie jemand Geschichte erklären will, wenn er keine Ahnung hat, wie die menschliche Seele funktioniert. Ich will dir noch ein Beispiel geben. Es ist immer wieder die Frage gestellt worden, wie war nur nach diesem furchtbaren Ersten Weltkrieg die Steigerung zum Zweiten möglich? Die Leute hätten doch eigentlich genug haben müssen von der Schlächterei. Natürlich – wenn sie vernunftgemäß gehandelt hätten. Haben sie aber nicht. Und warum nicht? Mir erscheint folgende Erklärung am plausibelsten: Am Ende des Ersten Weltkriegs war nahezu die gesamte jüngere männliche Bevölkerung Deutschlands entweder tot oder verwundet, körperlich wie seelisch schwerstens beschädigt. Tagaus, tagein hatten sie massenhaft getötet, hatten ständig ihre zerfetzten und verstümmelten Kameraden vor Augen, mussten ständig damit rechnen, da selbst zu liegen. Und als nach vier Jahren endlich alles vorbei war, kam der große Frust hinzu. Sie hatten verloren. Die ganze Schlächterei umsonst. Was kannst du von solchen Menschen erwarten, und auch von den Jüngeren, die sie erzogen haben? Ein ganzes Volk mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das konnte nicht einfach ‚normal‘ weitergehen. Die nächste Katastrophe war bereits programmiert, lange bevor sie eintrat.“
„Aber das geht doch dann immer so weiter.“
„Es muss nicht. Es gibt Hoffnung.“
„Jetzt widersprichst du dir aber.“
„Vielleicht. Aber ihr Jungen könnt es ändern.
„Wie soll das gehen?“
„Indem ihr endlich damit anfangt.“
„Womit?“
„Mit dem Nachdenken.“
1Die Eichendorffstraße liegt im Süden von Heidelberg im Stadtteil Rohrbach
2DIE ZEIT: Welt – und Kulturgeschichte, Band 12, S. 498ff
3DIE ZEIT: Welt – und Kulturgeschichte, Band 13, S. 12ff
Mittwoch, 14. August 2013
Es war ein strahlender Sommermorgen, kein Wölkchen am Himmel. Ein leichter Wind wehte von Südosten. Noch war die Luft angenehm. Aber bald würde die Hitze wieder unerträglich werden, die schon seit mehreren Tagen Heidelberg fest im Griff hatte.
Vor dem Asylbewerberheim draußen im Pfaffengrunder Industriegebiet hörte man helles Lachen und freudiges Schreien. Auf einem Brachgelände auf der gegenüberliegenden Straßenseite spielten fünf Kinder, vier Mädchen und ein Junge, mit einem roten Ball. Sie kamen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Sprachen. Dennoch verstanden sie sich spielend und waren glücklich. Für Augenblicke konnten sie die furchtbaren Erlebnisse vergessen, die sie hier in der Fremde zusammengeführt hatten und die sie oft nachts nicht schlafen ließen.
Doch dann standen unversehens zwei junge Männer unter ihnen, kahlgeschoren, in schwarzem Lederzeug und Springerstiefeln. Die Kinder hatten sie nicht kommen sehen. Einer von ihnen fing den Ball auf, warf ihn seinem Kumpel zu, der warf ihn wieder zurück. So ging es eine Weile. Die Kinder waren erst arglos, hielten das für Spaß, wollten mitspielen, versuchten, den Ball zurückzuerobern.
Doch dann hatte der eine plötzlich ein Messer in der Hand, warf den Ball hoch und fing ihn mit dem Messer auf. Die Luft entwich zischend. Entsetzt schauten die Kinder auf den kaputten Ball, begriffen endlich, dass das hier kein Spaß war, und liefen schreiend davon. Eines der Mädchen war zu langsam. Es war die Kleinste, wohl gerade erst vier Jahre alt. Die beiden Kerle fassten sie und schubsten sie ein paarmal zwischen sich hin und her.
Dann griff sie der mit dem Messer bei den langen schwarzen Haaren, hob sie hoch – sie schrie fürchterlich – und durchschnitt ihr schönes Haar, so dass sie auf den Boden fiel. Ehe sie sich aufrappeln konnte, packte sie der andere mit festem Griff an den Händen. Er schlenkerte sie ein paarmal hin und her und sagte dann: „Na, du kleine Araberhure, wie gefällt dir das?“
Das Kind sah ihn völlig erstarrt mit großen Augen an.
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