Frau Siegwalt zögerte.
„Ich weiß nicht“, meinte sie dann, „ob das eine so gute Idee ist. Frau Lewandowski ist schon sehr betagt. Sie wird demnächst neunzig. Man kann nicht wissen, wie sie das aufnehmen wird.“
„Das ist richtig. Aber man kann ihr die Wahrheit auch nicht ersparen.“
„Natürlich nicht. Aber ich würde vorher gerne Herrn Dr. Hager, unseren Hauspsychologen, zu Rate ziehen, wenn Sie nichts dagegen haben.“
„Wenn es nicht zu lange dauert. Meine Zeit ist natürlich begrenzt.“
„Ja, selbstverständlich. Ich werde Herrn Dr. Hager hoffentlich gleich erreichen. Wenn Sie ein paar Minuten hier Platz nehmen wollen.“
Sie deutete auf die Sitzgruppe gegenüber dem Empfangstresen. Travniczek setzte sich. Dieser Satz „Die hat schon so viel Furchtbares in ihrem Leben mitmachen müssen“, beschäftigte ihn sehr. Frau Lewandowski musste das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg als Jugendliche und junge Erwachsene erlebt haben. Intuitiv sah er die Verbindung zu Lewandowskis Verdacht, dieser Mitbewohner Fries sei ein Kriegsverbrecher. Das Furchtbare, von dem hier die Rede war, musste damit irgendwie in Zusammenhang stehen.
Da kam ein stattlicher Mann, bebrillt, in grauem Anzug an den Empfang und sprach eine Weile mit Frau Siegwalt im Flüsterton. Travniczek konnte nichts verstehen. Aber der Mann, sicher Dr. Hager, wirkte sehr beunruhigt. Bald darauf eilte er auf ihn zu.
„Dr. Hager, Psychologe des Hauses, Frau Siegwalt hat mir berichtet, was geschehen ist. Können Sie schon etwas über die Umstände des Todes von Herrn Lewandowski sagen?“
„Selbst wenn ich könnte, dürfte ich nicht. Laufende Ermittlungen. Aber wir wissen ohnehin noch fast gar nichts. Herr Lewandowski wurde heute Vormittag erschossen aufgefunden. Das ist alles. Ich hoffe, dass mir seine Mutter irgendetwas sagen kann, das uns weiterbringt.“
„Sie wollen Frau Lewandowski jetzt gleich befragen?“
„Wenn es irgend geht, ja. Je früher wir eine heiße Spur haben, desto sicherer werden wir den Täter überführen können. Da geht es oft um ein, zwei Tage, manchmal nur Stunden.“
„Verstehe. Ich würde Sie aber trotzdem bitten, davon zunächst Abstand zu nehmen. Ich arbeite öfters mit der alten Dame. An sich ist sie ja eine sehr starke Persönlichkeit. Aber Sie müssen wissen, sie ist Jüdin und hat im Dritten Reich ihre gesamte Familie verloren. Eltern und Geschwister wurden in Auschwitz vergast. Sie selbst hat nur durch einen Zufall überlebt. Wenn jetzt auch ihr Sohn – übrigens ihr einziges Kind – ermordet wurde … nicht auszudenken, was dann passiert!“
„Das kann ich verstehen. Aber das ändert nichts daran: Sie ist momentan unsere wichtigste Zeugin. Wir müssen da irgendeinen Weg finden.“
Dr. Hager fuhr sich mit der Hand durchs Haar und atmete tief durch.
„Können wir folgendermaßen verfahren?“, meinte er schließlich. „Ich werde jetzt wohl oder übel gleich mit ihr sprechen. Und wir werden sehen, wie sie es aufnimmt. Ich habe da keine Prognose. Es kann sein, dass sie völlig zusammenbricht. Es ist aber auch gut möglich, dass sie den Mörder schnell gefasst sehen will und sofort mit Ihnen sprechen möchte. Wir müssen einfach abwarten. Ich werde mich dann umgehend bei Ihnen melden.“
„Damit muss ich leben. Rufen Sie mich bitte noch heute Abend im Büro an. Hier meine Karte.“
Travniczek verabschiedete sich und verließ langsam das Michaelistift. Was für eine Tragödie, dachte er. Warum ist das Schicksal so ungerecht, eine Frau, die so Furchtbares mitgemacht hat, jetzt noch einmal so zu schlagen?
Wut stieg in ihm hoch. Er wollte umkehren und sofort diesen Fritjof Fries in die Mangel nehmen. Er musste sich zwingen, diesem Impuls nicht nachzugeben. Denn wenn er ihn jetzt verhören würde und dabei nichts herauskäme, wäre Fries vorgewarnt und könnte eventuelle Spuren problemlos verwischen. Natürlich mussten sie erst dessen Umfeld genau abklären.
Er bestieg sein Dienstfahrzeug, setzte das Blaulicht, schaltete das Martinshorn ein und raste zurück zur Polizeidirektion. Da keine akute Gefahr bestand, durfte er das eigentlich nicht. Aber das war ihm jetzt egal. In der Direktion lief er in den ersten Stock und steuerte dort, ohne ins Büro zu sehen, dem Ende des Ganges zu, wo in einer kleinen Rumpelkammer sein elektronisches Klavier stand. Er schloss hinter sich ab und griff ohne zu überlegen nach Bachs Chromatischer Fantasie und Fuge. Nur das konnte ihm jetzt wieder die nötige Klarheit verschaffen. Schon nach wenigen Takten der virtuosen Anfangspassagen löste sich seine innere Spannung. Und als die letzten Töne der grandiosen Fuge verklungen waren, hielt er einen Moment inne, schloss das Klavier und begab sich mit kraftvollem Schritt in sein Büro. Sein Kopf war wieder frei. Die Arbeit konnte weitergehen.
Außer ihm war niemand mehr da. Aber auf seinem Schreibtisch fand er eine Nachricht von Melissa Siebert: Herbert Pflaumer hatte in den letzten Tagen mehrfach Telefonkontakt mit Graf Baldur von Blauwitz.
Was war davon zu halten?
Travniczek versuchte, die bisherigen Erkenntnisse irgendwie zusammenzusetzen:
Fritjof Fries, nach Meinung von Lewandowski unter falschem Namen lebender gesuchter Kriegsverbrecher, stand im Kontakt mit Graf von Blauwitz. Der ist Mitglied der Deutschen Nationaldemokraten. (Perverser Name: Was ist an denen demokratisch?) Dessen Vater war ranghohes Mitglied der Waffen-SS gewesen. Das passte.
Lewandowski wurde erschossen. Warum? Fries fürchtete offenbar, von ihm enttarnt zu werden. Reichte das für einen Mord?
Fries konnte den Mord aber nicht selbst begangen haben. Pflaumer, unter dringendem Verdacht, den Mörder durch vorübergehendes Ausschalten der Videoüberwachung gedeckt zu haben, hatte Telefonkontakt zu dem Grafen. Der Graf hing also mit drin.
Travniczek schob im Geiste die einzelnen Puzzleteile hin und her: Dem Grafen scheint eine wichtige Rolle zuzukommen. Ist er vielleicht gar das Zentrum des Ganzen? Was hat es mit diesen Versammlungen im Reiterhof auf sich? Was für Leute treffen sich da? Motorräder hat Lewandowski dort gesehen. Haben die Skins, die das Asylbewerberheim überfallen haben, auch mit dem Grafen zu tun? … Alles reine Spekulation! …
Der Einbruch in Lewandowskis Büro, der Diebstahl der Festplatten – was soll das mit den Nazis zu tun haben? ... Das macht überhaupt keinen Sinn.
Also dieser Architekt, Pranger!
Aber Travniczek weigerte sich zu glauben, der Mord an Lewandowski könnte überhaupt nichts mit den Nazis zu tun haben. Warum eigentlich? Wollte er einfach, dass es die Nazis waren?
Und diese Blattau? Hier musste er besonders aufpassen: Sie ist Schauspielerin. Also kann alles, was sie sagt und tut, reines Theater sein. Wenn sie ihr Handwerk beherrscht, wird es schwer, das zu durchschauen. Aber diese Hassausbrüche! Das war echt, da war er sicher. … Aber –
Das Telefon unterbrach seinen Gedankengang. Eigentlich gut so, dachte er. Er wäre jetzt ohnehin nicht mehr weiter gekommen.
Dr. Hager war am Apparat.
„Wie lief es?“
„Schlecht. Sie ist mir zusammengeklappt. Herzattacke, vielleicht sogar Infarkt. Wir haben sie sofort in die Klinik bringen müssen. Der Arzt sagt, wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Ihr Herz ist doch schon sehr schwach.“
Nach dem Telefonat wollte Travniczek nur noch nach Hause. Vielleicht war ja Bernhard da. Er hatte in den letzten Wochen immer wieder gespürt, wie gut ihm die Gespräche mit seinem Sohn taten. Plötzlich kam ihm da wieder der Satz in den Sinn, mit dem Bernhard vor einigen Tagen den Ersten Weltkrieg charakterisiert hatte: Das ist doch alles einfach nur Wahnsinn!
Im Pausenhof des Kurfürst-Friedrich-Gymnasiums, dem ältesten Gymnasium Heidelbergs, war direkt neben der Turnhalle ein Auflauf entstanden. Inmitten eines Pulks von Quartanern gab es offenbar eine Rauferei. Zwei Obertertianer im Braunhemd der HJ beobachteten das Geschehen aus einiger Entfernung.
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