Thomas Henkel
Der Trader
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Inhaltsverzeichnis
Titel Thomas Henkel Der Trader Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Impressum neobooks
Der Trader
Es geschah am gestrigen Nachmittag – draußen herrschte trübes Herbstwetter –, nachdem ich mir gerade einige Aktienkursverläufe, die wir Börsianer Charts nennen, angesehen und zu ergründen versucht hatte, wohin die Reise bei diesen Aktien in den nächsten Monaten mit einiger Wahrscheinlichkeit gehen könnte: nach oben, nach unten oder seitwärts? Dabei bezog ich in meine Überlegungen natürlich auch die derzeitige Lage und mutmaßliche zukünftige Entwicklung des heimischen, des europäischen und des weltweiten Wirtschaftsklimas ein. Als ich nun Einsicht in das Orderbuch, auch Markttiefe genannt, eines bestimmten Anteilsscheins nahm, bei dem ich glaubte, dessen Kurs stehe mit recht hoher Wahrscheinlichkeit eine kräftigere Aufwärtsbewegung bevor, wobei die Chancen eindeutig die Risiken überwogen, entdeckte ich neben der untersten, preislich niedrigsten Position auf der Nachfrageseite ein merkwürdiges Symbol, welches Ähnlichkeit mit einer ägyptischen Hieroglyphe oder vielleicht auch mit einem einfachen chinesischen Schriftzeichen hatte.
Was zum Teufel hatte der Markt mit Tiefe zu tun, fragte ich mich manchmal. Ein Gedanke konnte tief sein, aber der Markt? Eine Bettbekanntschaft von mir verlangte mal im Eifer des Gefechts nach mehr Tiefe. Lange ist das aber her. De profundis clamavi ad te, Domine – aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, höre auf meine Stimme! Der Begriff der Markttiefe erweckt den Anschein, als handle es sich um eine mysteriöse Sphäre, in welcher die unsichtbare Hand eines gnädigen oder zürnenden Gottes entweder Gewinne verteilt oder mit Verlusten bestraft. Doch ist die Markttiefe etwas reichlich Profanes: Was ich da auf einem meiner beiden Computerbildschirme vor Augen hatte, waren einfach die gewünschten Preise und Stückzahlen einer bestimmten Anzahl von Kaufgesuchen und einer bestimmten Zahl von Verkaufsangeboten, und zwar derjenigen, die preislich am nächsten beieinanderlagen. Alle 10 bis 15 Sekunden verschwand ein Posten oder seine Stückzahl verminderte sich, was bedeutete, dass ein Geschäft zustande gekommen oder eine Position zurückgenommen worden war. Gleichzeitig rückte ein neuer Posten ins Blickfeld.
Ich wohne im dritten Stock eines Altbaumietshauses mit Fenstern zum Innenhof. In diesem Hof steht eine riesige Kastanie. Die Fenster meiner Wohnung gehen nach Norden. Dieser Umstand und das Baumungetüm führen dazu, dass ich bei bewölktem Wetter das Licht anknipsen muss.
Draußen begann es bereits, zu dämmern. Die Hieroglyphe machte mich neugierig, da mir etwas Derartiges im Orderbuch bislang nicht begegnet war. Ich dachte daran, dass hier den Börsenbetreibern vielleicht ein Fehler unterlaufen ist und das Zeichen irgendwelche sonst unzugänglichen Informationen verbergen könnte, die ich mir vielleicht für die Steigerung der Gewinne meines Tradings zunutze machen kann. Obwohl ich sehr wohl wusste, dass ich mir durch das Anklicken des Zeichens womöglich einen Virus oder Ähnliches auf meine Rechner hole, siegten schließlich die Neugier und die Unvernunft. Ich klickte also auf das Schriftzeichen. Plötzlich verschwanden die Charts und die blinkenden Anzeigen und beide Bildschirme zeigten auf blauem Grund die Meldung: „Schwerer Ausnahmefehler!“ Nach wohl einer Minute führten beide Rechner von selbst einen Neustart durch. Doch noch ehe die Computer vollständig hochgefahren waren, erloschen die beiden großen Rechtecke vor mir in ein undurchdringliches Schwarz. Gleichzeitig ging im Raum das Licht aus und ich hörte, wie die leisen Betriebsgeräusche der Rechner verstummten. Ich erschrak, da ich im ersten Moment diese Ausfälle ebenfalls der geheimnisvollen Hieroglyphe zuschrieb. Doch fasste ich mich rasch wieder und untersuchte, ob in den anderen Zimmern der Wohnung das Licht ging, aber alle betätigten Schalter versagten ihren Dienst. Ich begab mich ins Treppenhaus. Auch dort kein Licht! Es schien im ganzen Haus der Strom ausgefallen zu sein.
Ich sah aus dem Küchenfenster. Auch in den gegenüberliegenden Wohnungen war es überall dunkel. Ich nahm den Hörer meines Festnetztelefons in die Hand und drückte die grüne Taste: ebenfalls tot. Selbst das Display meines Smartphones zeigte: kein Netz. Die ganze Angelegenheit wurde mir unheimlich. Ich sah erneut aus dem Fenster und blickte an der Kastanie vorbei zum Himmel empor. Die Stimmung war gespenstisch, geradezu apokalyptisch. Die Atmosphäre erinnerte mich an den 11. September 2001. Auch damals blickte ich in den Himmel über Berlin, während auf dem Fernsehbildschirm unzählige Male die beiden Flugzeuge in die New Yorker Türme krachten, welche dann, so unglaublich und unwirklich dies schien, in sich zusammensanken, und während ein drittes Flugzeug das Pentagon getroffen hatte. Die Fernsehbilder waren zum Teil live und ich rechnete ernsthaft damit, dass am Berliner Himmel sogleich die Zeichen eines ähnlichen Infernos sichtbar werden würden.
Es war draußen schon dunkel, als ich mich endlich entschloss, meine große Taschenlampe hervorzukramen und im Arbeitszimmer zwei Kerzen anzuzünden. Der Mond war hinter einer dünnen Wolkenschicht zu sehen. Er schien größer als sonst und leuchtete rötlich. Das teilweise von den Wolken verdeckte Gestirn kam mir vor wie ein großes Stück erlöschende glühende Kohle, das sein kraftloses und geisterhaftes Licht auf die große Kastanie und die nur vereinzelt ebenfalls von Kerzenschein schwach erleuchteten Fenster der anderen Wohnungen warf.
Am späteren Abend begannen die Computer plötzlich wieder zu summen und das Licht kehrte zurück. Die kurze erzwungene Rückkehr in die Ära ohne Elektrizität war zu Ende, was ich fast bedauerte. Denn ich hatte mich in meinen Lesesessel gesetzt und war dort beinahe eingeschlafen, nachdem meine Gedanken mal hierhin, mal dorthin geschweift waren. Ich hatte mir aufgrund höherer Gewalt erlauben müssen, einfach mal nichts zu tun, wozu ich sonst ohne Selbstvorwürfe nicht in der Lage war. Der Stromausfall war also mittlerem Fieber vergleichbar, das auf mich eine ähnlich entlastende Wirkung hatte.
Ich hörte am selben Abend in den Regionalnachrichten, dass in der Nähe meiner Wohnung unter einer Brücke über einen Kanal, der in die Spree führt, zwei dicke Kabelstränge gebrannt hatten. Dieser Brand hatte den Stromausfall verursacht. Es handle sich wohl um einen Anschlag linksextremer Saboteure, hieß es.
In der Nacht hatte ich einen seltsamen Traum, der mich stark beunruhigte, ohne dass ich sagen konnte, warum. Ich saß vor einem großen tiefschwarzen Computerbildschirm. In dessen Mitte war eine kleine dunkelrote Öffnung, welche sich pulsierend öffnete und schloss. Bei jedem Pulsschlag wurde eine kleine Menge Blut ausgestoßen, so dass ein schmales Rinnsal am Bildschirm hinunterlief, welches am unteren Rand wieder unsichtbar wurde. Der blutrote Seim sah derart räumlich und plastisch aus, dass ich prüfend den Zeigefinger daraufsetzte. Als ich den Daumen gegen den Zeigefinger rieb, waren beide Fingerspitzen blutig. Diese widerwärtige Entdeckung erregte in mir ein solches Entsetzen, dass ich augenblicklich wach wurde, indem ich vom Liegen ins Sitzen aufschreckte. Ich hatte Mühe, nach diesen Traumbildern wieder in den Schlaf zu finden.
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