Stokes interessierte sich privat besonders für Astronomie und Philosophie. Von seiner Familie hatte er als Reiselektüre das 1784 erschienene Buch Über den Bau des Himmels, des Astronomen Wilhelm Herschel, im Reisegepäck. Herschel war im Jahr 1820 einer der Initiatoren und Gründer der Astronomical Society. Er arbeitete, gemeinsam mit seiner Schwester Caroline und seinem Sohn John, an ihrem welthistorischen astronomischen Lebenswerk, den Herschel-Katalogen für Nebelflecken und Sternhaufen. Ein Philosophieexperte und Freund von Stokes Vater, mit einer privaten, erstklassigen und imposanten Philosophieliteratur-Sammlung, hatte John Stokes eine persönliche Favoritenliste der zehn größten Philosophen der Weltgeschichte geschenkt. Diese zehn Philosophen personifizierten – aus subjektiver Sicht – in der Philosophiegeschichte mehr geistige Höhe und mehr Einfluss, auf die Geistesgeschichte der Menschheit, als andere Philosophen. Die maßgeblichen zehn Philosophen, die größten der großen Metaphysiker, die hochkarätigsten Denker waren demgemäß – in chronologischer Reihenfolge – Buddha, Konfuzius, Sokrates und Jesus, vor allen anderen, dann Heraklit, Platon, Laotse, Spinoza, Leibniz und Kant. Als Vorwort zur Weltphilosophenliste wurde Buddha zitiert, in Großbuchstaben geschrieben: „GLAUBT NICHT BLIND DEN SCHRIFTEN, GLAUBT NICHT BLIND DEN LEHRERN, GLAUBT NICHT BLIND WAS ICH EUCH SAGE, GLAUBT NUR DAS, WAS IHR PERSÖNLICH ALS WAHRHEIT UND ERKENNTNIS ERKANNT HABT.“ Stokes hatte vor, in den 20 Encyclopaedia Britannica Lexikonbänden der Schiffsbibliothek, die Philosophiegeschichte, Geistesgeschichte und Kulturgeschichte weiter kontinuierlich und chronologisch zu studieren.
Darwin las immer wieder in Humboldts und Forsters Reiseberichten, als seine Lieblingslektüren, und er studierte wissenschaftlich primär die Principles of Geology von Lyell, die er von FitzRoy als Geschenk für die Reise erhalten hatte. Lyell definierte die geologischen Prozesse der Gegenwart und die geologischen Formationen aus der Vergangenheit als Prozesse über Jahrhunderte, Jahrtausende und sogar Jahrmillionen. Lyell hatte vor der Formulierung seiner Principles den Evolutionstheoriepionier Lamarck gelesen und übertrug Lamarck-Biologieideen auch auf die Geologiewelt. Es gab gemäß Lamarcks Evolutionstheorie langsame stetige Entwicklungsprozesse in der Gegenwart und solche langsamen stetigen Entwicklungsprozesse fanden analog auch in der Vergangenheit statt. Darwins Großvater Erasmus Darwin Senior gehörte zu den Anhängern der Evolutionsthesen und zum Kreis der Evolutionstheoretiker. Erasmus Darwin Senior war ein Mann der als ein landesweit bekannter Intellektueller, als ein Idealist und als Arztkoryphäe auch von König Georg III. persönlich geschätzt wurde. Erasmus Darwin Senior hatte, nach der Entdeckung von Dinosaurierskelettknochen, 1794-1796, in seinem zweibändigen Buch mit dem Titel Zoonomia oder die Gesetze des organischen Lebens, logische Schlussfolgerungen über langwierige Evolutionsprozesse thematisiert und formuliert . . . Das 1735 veröffentlichte Botanik- und Zoologie-Standardwerk Systema Naturae von Carl von Linné, mit der systematischen Kategorisierung aller damals bekannten Pflanzenarten und Tierarten, war auch eine wichtige Anleitung für Darwins Forschungsaufgaben.
K A P I T E L 4
DIE KAPVERDISCHEN INSELN
Die Reisetage von Teneriffa nach St. Jago waren extrem angenehm. Mit dem Schleppnetz wurde eine enorme Anzahl an kuriosen, exotischen Meerestieren eingesammelt und diese beschäftigten Darwin rund um die Uhr, durch die mikroskopische Untersuchung, die Aufzeichnung der Details und Sammlung jeder Spezies. Darwin war voll und ganz in seinem Element, als Ozeanorganismenjäger und Souvenirssammler. Das Wetter hätte nicht besser sein können. Die Sicht war glasklar, das Meer glänzte tiefblau und der kräftige Wind auf hoher See sorgte für permanenten Antrieb. Am 16. Januar 1832 erreichte die HMS Beagle die Hauptstadt der Kapverdischen Inseln, Porto Praya auf St. Jago. FitzRoy schrieb darüber an seinen Vorgesetzten und Freund Beaufort: „Sobald Darwin ab Teneriffa wieder auf den Beinen war, fing er an wie ein Workaholic zu arbeiten und per selbstgebasteltem Schleppnetz gefangene Meerestiere zu analysieren. Als wir dann im Hafen von Praya erstmals an Land gingen, war er voller Euphorie. Ein Kind mit einem neuen Spielzeug hätte nicht glücklicher sein können, als er es mit St. Jago war . . . “
Bei aller Liebe des Naturforschers, für die natürliche Schönheit der kapverdischen Insel, gab es aber auch den hässlichen, katastrophalen Aspekt der kolonialen Inselhistorie. Heinrich der Seefahrer, Sohn von König Johann I. von Portugal und ab 1420 Oberhaupt des portugiesischen Christusritterordens, legte ab 1418 den Grundstein für Portugals Aufstieg zu einer führenden Seemacht. Der Christusritterorden war 1319 entstanden, als ein Ersatz für den Templerorden, dessen Auflösung 1312 von Papst Clemens V. verfügt wurde. Heinrich der Seefahrer initiierte mit der Expansion der Seefahrt das Zeitalter der Kolonialmächte. Mit aller Kraft trieb Heinrich die Entwicklung von besseren Hochseeschiffen, neuen nautischen Instrumenten, genaueren Seekarten und die Entstehung professioneller nautischer Seefahrerschulen voran. Als Gouverneur der Algarve finanzierte Heinrich – bis an die Schmerzgrenze, bezüglich der eigenen Finanzmittel und der Finanzmittel Portugals – die Erforschung und Entdeckung des Seeweges nach Indien. Die horrenden Kosten, für die ehrgeizigen, jahrzehntelangen Entdeckungsreisenprojekte, verursachten finanzielle Knappheit oder sogar Engpässe. Das Geld fehlte an anderer Stelle, bei militärischen Budgets, städtischen Bauvorhaben und sonstigen Staatsaufgaben. 1418 wurde ein neuer geografischer Horizont erschlossen, durch portugiesische Entdeckungsfahrten an die westafrikanische Küste. 1434 gelang erstmals die Umschiffung von Kap Bojador, rund 200 Kilometer südöstlich von Gran Canaria. Kap Bojador galt zuvor, für die europäischen Seefahrer, als Kap ohne Wiederkehr und als die unpassierbare Grenze der Welt. 1456 entdeckte der Kapitän Alviseda Cadamosto die Kapverdischen Inseln. Die langwierigen und teuren portugiesischen Seeexpeditionen wurden, durch das Plündern von Küstendörfern, die Verschleppung von Einheimischen zur Lösegelderpressung – wie es vorher schon mit benachbarten Mauren gegenseitig praktiziert wurde – und vor allem durch den Verkauf von Gefangenen als Sklaven, in zunehmendem Maße wirtschaftlich erfolgreicher. Prinz Heinrich war an allen Verkaufserlösen prozentual beteiligt. Als Großmeister des Christusordens hatte Heinrich einen direkten persönlichen Kontakt zu Papst Nikolaus V., um dessen formales Einverständnis mit den Sklavenhandelsgeschäften, des Einkaufs und Verkaufs von afrikanischen Sklaven, Heinrich gebeten hatte. Papst Nikolaus V. erlaubte die Sklavenhandelsgeschäfte, per päpstlichen Bullen, Dum Diversas 1452 und Romanus Pontifex 1455. Der Vatikan erlaubte, Heiden zu versklaven und ihren Besitz zu konfiszieren . . . 1494, zwei Jahre nachdem Kolumbus die erste legendäre Atlantiküberquerung unternommen hatte und ein Jahr nach der Kolumbus-Rückkehr von der Entdeckung der Neuen Welt, beschlossen die Königreiche Spanien und Portugal die Aufteilung der globalen Expansion, per Vertrag von Tordesillas, mit der Intervention und Einwilligung von Papst Alexander VI. Um einen militärischen Konflikt zwischen Portugal und Spanien zu vermeiden, wurde die Welt, durch eine Grenzlinie zwischen Nordpol und Südpol, in eine spanische Westhemisphäre und eine portugiesische Osthemisphäre aufgeteilt. Diese senkrechte Nord-Süd-Grenzlinie verlief durch Grönland, den Atlantik und Südamerika, mit den Meridian-Längengrad-Koordinaten 46 Grad 37 Minuten West. Aus den Regionen der Nordküste, Westküste und Südküste Südamerikas wurden spanische Kolonien. Die noch unbekannten Küstenabschnitte Brasiliens wurden portugiesische Kolonie. 1498 gelang es dem Portugiesen Vasco da Gama, den gesamten Seeweg nach Indien erstmals zu realisieren. Vasco da Gamas Bruder Paulo starb auf der Rückreise. Mehr als die Hälfte der Matrosen, der vier beteiligten Schiffe, starben an Skorbut oder anderen Krankheiten. Die meisten Überlebenden waren durch die Skorbutkrankheit körperlich degeneriert. Nur zwei Schiffe überstanden den Reisemarathon und konnten, immens beladen mit kostbaren Handelsgütern, nach Portugal zurückkehren. Portugal stieg, mit Vasco da Gamas Indienseeweg, zur führenden Handels- und Seemacht des 15. und 16. Jahrhunderts auf. Im 15., 16. und 17. Jahrhundert erwarb Portugal Kolonien in Afrika, Amerika, Arabien, Indien, Südostasien und China.
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