Darwin hatte, trotz der Kopfschmerzen, aufmerksam zugehört. Die Worte von Stokes Kapitän King motivierten ihn, nicht sofort über Bord zu springen, um den Höllenqualen ein schnelles Ende zu machen. Leider dauerte dieser Zustand des Deliriums ganze 10 Tage.
K A P I T E L 3
DIE KANARISCHEN INSELN
Auf dem Weg nach Teneriffa segelte die Beagle an der Insel Madeira vorbei. Der extreme Wellengang am 04. Januar und die falsche Windrichtung waren aber ein zu hohes Risiko, für einen Versuch in den Hafen von Madeira einzufahren, deshalb wurde die Reise ohne Madeiraaufenthalt fortgesetzt. Darwin unternahm keinen Versuch, die Silhouette von Madeira zu sehen, weil er unfähig war zu gehen oder zu stehen und in seinem Zustand die Schlafkabine nicht verlassen konnte. Die einzigen bleibenden Erinnerungen, an die Woche nach den ersten 24 Stunden auf hoher See, waren die fieberhaften Qualen der Seekrankheit und die schrillen, grauenvollen Schreie der vier Matrosen.
Diese vier Matrosen erhielten am zweiten Reisetag jeweils drei Dutzend Peitschenhiebe, weil sie vor der Abreise nachts unerlaubt von Bord gingen, das Beiboot dafür entwendet hatten und in betrunkenem Zustand zurückkamen. Für die autoritär christlich erzogene Zivilperson Darwin, dessen Familie den Sonntag als Gottestag ansah und kirchentreu die Sonntagsmessen besuchte, war die militärische Realität – der radikalen Mittel des Auspeitschens oder auch im Extremfall die mögliche Verurteilung zu einer Todesstrafe durch Hängen – ein dramatischer Kulturschock. Für Stokes und die praxiserfahrenen Crewmitglieder war diese Marinestrafjustiz eine Routinesache. Aus Stokes Perspektive gab es, das galt in allen Jahrhunderten und in allen Erdteilen, zwei Arten seinen Job zu machen und zwei Grundformen sein Leben zu leben. Es gab die Babylonier aus Babylon, die Wikinger aus Trondheim, die Mongolen aus Karakorum, die Azteken aus Tenochtitlan und die Machiavellisten aus Florenz, die mit Morden, Gewalt, Diebstahl, Manipulationen und Ignoranz auf Kosten anderer Menschen und auf Kosten der Welt lebten. Es gab immer auch die zivilisierten Humanisten, die wie Thales, Konfuzius, Jesus, Erasmus von Rotterdam und Galilei in Frieden, Nichtdissozialität, Nichtdoppelmoral, Nichtegozentrik und Verantwortung mit den Mitmenschen und mit der Welt lebten. Jeder Mensch hatte die persönliche, primäre Verantwortung für seine eigene Charakterqualität und geistige Lebensqualität. Es gab immer Antimenschen und Kosmopoliten – Antimenschen waren Kosmopathen. Nach der Definition des griechischen Philosophen Diogenes, einem Zeitgenossen Alexanders des Großen, war ein Kosmopolit ein Kind des Universums und der Naturwelt. Ein gesund entwickelter Charaktermensch lebte als ein konstruktiver Teil des universalen Ganzen und seiner individuellen Mitwelt. Kosmopolitische Mentalität war ein konstruktives Teilen der Verantwortung für die Mitwelt, genauso wie ein konstruktives Teilen von Arbeitsfrüchten der Gemeinschaftswelt . . . Wenn Marinesoldaten oder Matrosen, wie bei der Meuterei auf der Bounty 1789, durch Diebstahl eines Bootes oder Schiffes oder durch Streiken und Desertionen gegen die Ordnungsregeln der Royal Navy verstießen, dann reglementierten die Regulations der Admiralität sowie die 36 Articles of War die direkten Konsequenzen und autoritären Strafen. Als relativ mildere Strafe diente das öffentliche Auspeitschen an Deck mit einem Dutzend Peitschenhieben, beispielsweise für Volltrunkenheit im Dienst oder Aggressionen an Bord. Als Höchststrafen gab es die Todesstrafe, langfristige mehrjährige Militärgefängnisstrafen oder maximal 500 Peitschenhiebe, was sich ebenfalls als Todesstrafe auswirken konnte. In Relation zu der drakonischen, rigorosen Rechtspraxis an Land, im späten 18. Jahrhundert und frühen 19. Jahrhundert, war die militärische Strafjustiz der Royal Navy nicht extra streng, sondern konventionell streng. Für Offiziere stand als eine milde Strafe das Karriereende, per Ausschluss aus der Royal Navy, zur Option. Die Frage war, wie man die Gemeinschaftssache vor Chaoten schützen kann, nicht aber, wie man Chaoten vor den Gemeinschaftsregeln schützen kann. . . . Stokes dachte sich, ein zivilisierter Mittelweg und eine progressive Strafsteigerung bei Wiederholungstätern und Serientätern, statt drakonischer Strafen oder minimaler Strafen, das könnte die richtige Orientierung sein, wenn er als Kapitän die Verantwortung zu tragen hätte.
Am 06. Januar 1832, dem 11. Reisetag, erreichte die HMS Beagle den Hafen von Teneriffa. Darwins fieberhafte Übelkeit und die alptraumhaften Peitschenhiebe im Kopf waren, mit dem Panoramaanblick von Teneriffa und dem ruhigen Seegang im Hafen von Santa Cruz, in kurzer Zeit fast wie weggezaubert. Der Anblick dieser Kulisse begeisterte Darwin, das war ein magischer Moment. Dass Gottes Natur so sensationell vielseitig und so kreativ schön sein konnte, es schien wie ein phantastisches, phantasievolles Märchen zu sein. Großbritanniens höchster Berg, der Ben Nevis in den schottischen Highlands, war nicht höher als rund 1.340 Meter. Die Bucht des Hafens von Santa Cruz war voller Hügel, wie ein Alpendorf, und im Hintergrund überragte der rund 3.700 Meter hohe inaktive Vulkanberg Pico del Teide die gesamte quasi dreieckige Insel, mit einer Insellänge von 83 Kilometern und einer maximalen Inselbreite von 53 Kilometern. . . . Die Beagle hatte den Anker geworfen. Es dauerte nur eine Minute bis ein Boot von der Hafenmauer auf die Beagle zusteuerte. Ein kleiner, blasser Mann der Hafenbehörde kam an Bord und sprach den Kapitän an: „Sehr geehrter Herr Kapitän, wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Besatzungsmitglieder und alle Passagiere der HMS Beagle für 12 Tage unter Quarantäne stehen, wegen der Choleraepidemie in London und England. Auch Berlin, Deutschland, Moskau, St. Petersburg und Russland sind von dieser Epidemie betroffen.“ . . . Nach dieser Hiobsbotschaft herrschte eine Weile eine gespenstische Totenstille an Bord. Dann entschied der Kapitän, dass die Segel wieder gehisst werden und die Beagle ihre Reiseroute fortsetzt. Darwin hätte weinen können, vor tiefer innerer Enttäuschung, über die Situation und die ganze Schiffsbesatzung war schockiert über das Verbot des Landaufenthaltes.
Am 07. Januar trieb die HMS Beagle, ohne sichtbare Fortbewegung und ohne spürbaren Wellengang, zwischen der Ostküste von Teneriffa und der Nachbarinsel Gran Canaria, auf dem Atlantischen Ozean, 300 Kilometer von Kap Juby und der Südwestgrenze Marokkos entfernt. Es herrschte fast völlige Windstille. . . . Darwin fühlte sich wie neugeboren, weil die Seekrankheit nicht mehr akut war. Beim Frühstück war ihm die Idee in den Sinn gekommen, aus einem Segeltuch, das mit Löchern perforiert werden musste, ein Schleppnetz für Fische, Plankton und sonstige Meeresorganismen zu konstruieren. Wenn es also keine Wildschweinejagd oder Exkursionen auf Teneriffa gab, dann wenigstens etwas Fischfang. So konnte er jetzt, auch an Bord der Beagle, mit seiner Forschungsarbeit anfangen. . . . Viele Matrosen vertrieben sich gerne mit Würfelspielen oder Kartenspielen die freie Zeit. FitzRoy, Stokes und Darwin stand jederzeit die Schiffsbibliothek, mit einer dreistelligen Anzahl an hochkarätigen Büchern, in der freien Zeit zur Verfügung.
FitzRoy hatte als private Lektüren den intellektuellen, epochalen, britischen und satirisch-parodistisch-ironischen Familienportrait-Roman Tristram Shandy von Laurence Sterne gekauft sowie den Briefroman-Klassiker Clarissa von Samuel Richardson, den Liebesroman-Bestseller Hesperus von Jean Paul und den populären, historischen, schottischen Liebestragödie-Roman Die Braut von Lammermoor von Sir Walter Scott. Der Roman von Scott inspirierte zeitgleich während der Beagleexpedition Gaetano Donizetti zur Komposition der Oper Lucia di Lammermoor. FitzRoy interessierte sich auch in hohem Maße für die asiatische Kulturgeschichte, seit es mehr und mehr Übersetzungen von Klassikern der asiatischen Literatur gab. Werke über Buddha, Konfuzius, Krishna und Laotse wurden, durch die 1784 in Kalkutta zur Orientkulturforschung gegründete Royal Asian Society, gesammelt und übersetzt und damit auch für Europäer zugänglich gemacht.
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