Was sich Robert insgeheim schon fast gedacht hatte, wurde ihm von Esther bestätigt. Prinzipiell war er tot, denn im Regelfall überlebt kaum jemand die Auswirkung eines Konzertflügels, der einem aus gut fünfzehn Metern auf die Birne donnert. Auch seine Annahme, dass er sich an einem Ort befand, der dem durchschnittlichen Lebenden nicht als Tourismusziel angeboten wurde, stellte sich relativ bald als wahr heraus. Und doch hatte er sich das Jenseits etwas anders vorgestellt. Das tote Graz war nur eine von vielen, aber durchaus miteinander verbundenen, jenseitigen lokalen Welten, auch wenn es keinen nennenswerten oder notwendigen überregionalen Austausch gab, sofern man von Verwandtenbesuchen absah. In weiterer Folge stelle das tote Graz einen Bestandteil der jenseitigen Steiermark dar, die wiederum Bestandteil des jenseitigen Österreichs war, das – welch' Überraschung – Bestandteil des jenseitigen Europas war. Das Ganze konnte insofern aber als belanglos betrachtet werden, da das tote Graz, wie die meisten anderen jenseitigen Welten, durchaus autonom verwaltet wurde und übergeordneten Konstrukten wie Land, Staat oder irgendwelchen internationalen Bünden kaum Rechenschaft schuldig war. Die Zeit in der jenseitigen Welt lief parallel zur Zeit im Diesseits, also auch hier schrieb man das Jahr 2014. Das tote Graz selbst hatte seine Ursprünge bereits in der römischen Kaiserzeit im ersten Jahrhundert nach Christus, als sich hier die ersten Bauern niederließen und irgendwie im Hinterkopf hatten, dass das Leben nach dem Tod weitergehen könnte. Angeblich war dem ersten in Graz gestorbenen Bauern nach seinem Ableben für ein paar Wochen unglaublich langweilig, bis ihm dann seine Frau folgte und er sich die Ruhe zurückwünschte. Letztendlich blieben sie jedoch trotzdem ein Paar, da sich Yolo der Viehzüchter schlichtweg als zu unfähig erwies, alleine einen Haushalt zu führen, und Ida ihn ja doch irgendwie mochte, ihren unrasierten Brummbären. Außerdem kam in den Hochzeitszeremonien der ersten Siedler auch noch nicht der Satz „Bis dass der Tod uns scheidet“ vor, womit dieses Argument ebenso flach fiel.
>>Schau Robert, die Sache ist doch ganz einfach. In dem Moment, wo die Menschen begonnen haben, an eine Existenz danach zu glauben, kam diese auch zu Stande. Hat wohl irgendwann vor 125 000 Jahren in Südostanatolien angefangen, aber ich bin da geschichtlich nur bedingt bewandert.<< Robert hatte beim Zuhören inzwischen jenen Blick angenommen, den ein indigener Urwaldbewohner in Südamerika an den Tag legt, wenn er zum ersten Mal ein Flugzeug über den Dschungel fliegen sieht. >>Ja aber, ich meine, wieso…<< Esther betrachtete eingehend den Inhalt ihres halbvollen Glases, bevor sie weiterredete. Als grenzenlose Optimistin war ihr Glas nie halb leer. Negative Perspektiven begannen sich bei Esther meist erst dann zu entwickeln, wenn im Broken Bones die letzte Bestellrunde angekündigt wurde. >>Wie ich feststellen muss, fehlen dir wohl auch die Basics, aber es sei dir verziehen, immerhin bist du ja ein Frischling...<<>>Dann klär mich endlich auf!<< Genau das versuchte sie dann auch, jedenfalls so weit sie es konnte. Es war völlig unwahrscheinlich, dass es jemals einen Menschen geben würde, der das tote und lebende Universum in seinem vollen Umfang verstehen konnte.
Verantwortlich für das Zustandekommen eines Jenseits generell, beziehungsweise der jeweiligen lokalen Ausprägungen, war eine Materie, deren Entdeckung durch weltliche Wissenschaftler in absehbarer Zukunft unwahrscheinlicher war, als ein WM-Sieg der Österreichischen Fußballnationalmannschaft. In den jenseitigen Welten wusste man jedoch, dass diese Materie ungefähr 23% des Universums ausfüllte und unter dem Namen "Imagen" bekannt war. Für was das Imagen sonst noch alles zuständig war, konnte man auch hier nicht mit Bestimmtheit sagen. Fest stand jedoch, dass es vor Urzeiten jenen Prozess in Gang gesetzt hatte, der dazu führte, dass die transzendenten Vorstellungen der Menschheit über Gott und die Welt im Jenseits feste Gestalt annahmen. Allerdings fungierte Imagen gleichzeitig auch als übergeordnete regulierende Kraft, die dem Jenseits eine gewisse Logik verlieh und der Gestaltung des selbigen gewisse Grenzen setze. Das Imagen ließ es also folglich nicht zu, dass Robert nun an einem Ort „lebte“, an dem vollbärtige Terroristen siebzehnjährige Jungfrauen vögelten, während mitteleuropäische Christen wahlweise fegefeuernd durch die Gegend liefen oder auf einer Wolke saßen, Harfe spielten und irgendwelchen Nordmännern dabei zusahen, wie sie mit Odin um die Wette soffen. Die Logik des Imagen entschied sich für die denkbar uneleganteste Möglichkeit: Es erlaubte dem Jenseits nämlich, sich parallel und in einer gewissen Spiegelung zum Diesseits zu entwickeln. Dabei gestattete das Jenseits gewisse physikalische und gesellschaftliche Freiheiten, die wohl in der diesseitigen Steiermark bis jetzt noch in keiner Epoche vorstellbar gewesen wären. Da die Logik des Imagen auch für die für die schon am längsten hier verweilenden Toten unergründbar war, blieben manche Fragen allerdings offen. So wusste zum Beispiel Niemand, warum sich das tote Graz im Gegensatz zum lebendigen zwar nur auf die fünf bis sechsfache Stadtfläche ausgedehnt hatte, hier aber trotzdem fünfzehnmal so viele Menschen leben konnten. >>Fünfzehnmal so viele Menschen? Rammeln hier alle wie die Karnickel und nehmen keine Verhütungsmittel oder hatte HC Strache, der alte Paranoiker, doch recht und wir sind von Migranten überflutet worden?<< Esther sah ihn ungläubig an und wusste nicht, ob sie lachen oder sich über Roberts vermeintliche Begriffsstutzigkeit ärgern sollte. Sie selbst neigte aufgrund ihrer eigenen überdurchschnittlichen Intelligenz in solchen Situationen dazu, von anderen Personen ein schnelleres Begreifen der Sachlage zu erwarten, als unter den jeweiligen gegebenen Umständen angebracht war. Da aber Esther diesbezüglich zumindest über marginale Fähigkeiten der Selbstreflexion verfügte, entschied sie sich weder für das eine noch das andere. Stattdessen nahm sie lieber noch einen kräftigen Zug vom inzwischen fast zu Ende gerauchten zweiten Joint. >>Sag mal, hörst du mir eigentlich zu? Wir sind im Jenseits, hier kommen alle her, die im lebendigen Graz den Löffel abgeben. Du kannst dir ja selber ausrechnen, wie viele das seit Yolo dem Viehzüchter gewesen sind.<< Mit einem Hauch von peinlicher Berührung starrte Robert auf den immer kleiner werdenden Ofen. >>Naja, äh, ein oder zwei Fragen hätte ich da aber trotzdem noch.<< Sie schob ihm den Tabak, das Zigarettenpapier, und das kleine, rote, metallene Blechdöschen hinüber. >>Lass mich raten! Die so furchtbar originelle Frage nach Gott und die Frage, wovon es abhängt, welche Gestalt wir altersmäßig im Jenseits annehmen.<< Esther deutete zu Sepp, dass er noch zwei Bier bringen sollte und lehnte sich zurück. >>Du baust noch einen, ich rede.<<
Mit der Frage nach Gott lag Esther völlig richtig, mit der Frage nach Gestalt und Alter nicht. Diese fand Robert allerdings äußerst interessant, weshalb er seine ursprüngliche zweite Frage nach der Herkunft des hauseigenen Bieres einstweilen hinten anstellte. Eine Möglichkeit war, dass man sich als ausreichend guter oder zumindest moralisch brauchbarer Mensch im Jenseits in jener Gestalt materialisierte, in der man sich zu Lebzeiten selbst am liebsten gesehen hatte. Robert zählte dreiunddreißig Lenze, als es ihm die Schuhe aufstellte und er hatte immer genug Selbstvertrauen um sich dementsprechend wohl zu fühlen wie er gerade war. Genau so saß er auch im Broken Bones und nahm von Sepp, dem Barmann, zwischenzeitlich seinen dritten Humpen in Empfang.
>>Siehst du den alten Typen mit weißem Bart da an der Bar, der wie frisch aus einer „Werthers Echte“-Werbung aussieht?<< Robert drehte sich um und erblickte einen offensichtlich sehr betrunken, aber gut gepflegten Senioren. Er schlief mit dem Gesicht in einem Aschenbecher am Tresen und schnarchte vor sich hin. >>Das ist Koma-Heinrich, der sah sich am liebsten in der fürsorglichen Rolle des liebevollen Großvaters. Sein Enkel war gerade fünf, als er bei einer Kaffeefahrt nach Ungarn seine Herztabletten vergessen hatte.<<>>Interessant, und was ist passiert?<< >>Sein Enkel folgte ihm zwölf Jahre später nach. Überdosis Heroin. Der junge Mann steht nun recht abgefuckt am Hauptplatz herum, und tut immer noch das, was er am besten gekonnt hatte, nämlich Geld für Drogen schnorren. Als der gute Heinrich merkte, dass mit „Mensch ärgere dich nicht“ - Spielen und Parkspaziergängen nun nicht mehr so viel läuft, ergab er sich dem Suff und wurde hier zum Stammgast.<<
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