>>Was zur Hölle ist hier eigentlich…<<>>So ungefähr<< , sagte die blonde, schlanke und großgewachsene Frau, welche fast wie aus dem Nichts kommend - dafür aber wie aufs Stichwort bestellt - plötzlich neben Robert stand, >>es ist nur nicht ganz so einfach wie man glauben möchte.<<>>Und wer zum Teufel bist…<< >>Der wäre ich gerne, aber auch diesbezüglich ist es ein wenig komplizierter als der einfache Mensch zu denken vermag<< , sagte sie und strecke Robert die Hand zum Gruße hin. >>Braun, Esther Braun, Bezirksinspektorin. Ich bin hier, um dich zu empfangen und ins Büro meines Bosses, den Dezernatsleiter für unautorisierte Gewalt- und Fluchtdelikte zu bringen. Willkommen im toten Graz!<<
Auch wenn das tote Graz entgegen Roberts erster Annahme weder am Feinstaub noch an seiner Langeweile gestorben war, so warf die neue Umgebung dennoch einige Fragen auf. Zur Beantwortung dieser führte Esther den immer noch völlig perplexen Robert entgegen ihres ursprünglichen Auftrages erst einmal über eine der zahlreichen Seitengassen, die von der Herrengasse abzweigten, in ein etwas ruhigeres Gefilde der toten Grazer Innenstadt. Nach ungefähr zehn Minuten Fußmarsch landeten Esther und Robert am ebenfalls im Zentrum gelegenen Glockenspielplatz. Selbiger war ebenso um ein Vielfaches größer als sein Pendant im Diesseits, war aber um einiges weniger stark frequentiert als die Herrengasse, wenn auch nicht wesentlich ästhetischer.
Seinen Namen hatte der Glockenspielplatz zumindest im diesseitigen Graz deswegen, weil sich im Giebel des Hauses mit Platznummer 4 dreimal täglich ein Fenster öffnete und ein aus Holz geschnitztes Tracht tragendes Mädel und ein dazugehöriger Trachtenbursche zum Vorschein kamen und sich im Kreise drehten. Dazu erklang irgendeine Melodie, die von irgendwelchen Glocken gespielt wurde. Im Jenseits schien das Uhrspiel ebenfalls zu funktionieren. Es musste gerade 18:00 Uhr geworden sein, denn das Fenster ging auf und es kamen zwei Figuren ans Tageslicht, sofern man dieses überhaupt Tageslicht nennen konnte. Der Unterschied lag im sehr aufdringlichen Detail. Statt der Glocken erklang irgendwo im Hintergrund ein Schlagzeug mit Doublebass und nur das Mädel war in sein traditionelles steirisches Dirndl gehüllt, zusätzlich aber mit einer Art Hammer bewaffnet. Der Bursche trug statt seiner Lederhose einen Anzug, hielt eine Aktentasche in der linken Hand und bekam in den folgenden dreißig Sekunden das Schlagwerkzeug im Viervierteltakt auf den rechten Fuß gedroschen. Unter dem Fenster war ein Transparent gespannt auf dem "Lieber unsere Jugend besetzt fremde Häuser, als fremde Länder - AFA" zu lesen war. >>Ist nicht mehr im öffentlichen Besitz, sondern von antipazifistischen feministischen Autonomen besetzt. Ehemalige Touristenattraktionen zu besetzen, ist hier so 'ne Art Volkssport, weil es keine Polizeieinheiten gibt, die selbige wieder räumen würden<<, sagte Esther beiläufig. Ohne sich großartig um Roberts anhaltende Verwirrung zu kümmern, steuerte sie ein am Platz gelegenes Pub mit dem Namen Broken Bones an, welches wider Erwarten eine durchaus angenehme Atmosphäre bot. Von der Einrichtung her orientierte es sich an den klassischen irischen Pubs, in welchen Robert noch bis vor kurzem mehr Zeit verbracht hatte, als es seiner Leber gut tat.
Das Pub bot Platz für ungefähr 70-80 Leute und war mehr oder weniger gut gefüllt. Esther wählte einen kleinen runden Tisch im hintersten Winkel des für Robert etwas zu klischeebeladenen irischen Lokals. Nachdem sie einem ebenso klischeebeladenen und hinter der Bar lümmelnden Kellner >> Zwei Krügerl bitte!<< zugerufen hatte, setzte sie sich auf einen mit rotem Leder bezogen Holzsessel. Das Nächste, was Esther relativ kommentarlos tat war, dass sie zuerst einmal extralanges Zigarettenpapier, Tabak und ein kleines, rotes, metallenes Blechdöschen aus ihrer roten Stoffhandtasche herausfischte. Rot schien wohl im jenseitigen Graz nicht nur äußerst populär zu sein, sondern generell die einzig vorhandene Komplementärfarbe. Robert ließ sich gegenüber von ihr in einen Sessel fallen und beobachtete sie dabei, wie sie völlig ungeniert begann, ein Gerät zu bauen. Auch wenn er sich immer noch nicht ganz im Klaren war, was hier eigentlich los war, beruhigte es ihn unheimlich, dass es in dieser absonderlichen Welt scheinbar nicht nur Bier gab, sondern auch relativ liberale Drogengesetze. Der Kellner, der als vermeintlicher Ire einen komisch anmutenden grün karierten Schottenrock trug, sich von einem roten Rauschebart das wettergegerbte Gesicht schmücken ließ und interessanterweise auf den Namen Sepp hörte, stellte zwei Krüge mit einem Lagerbier unbekannter Herkunft auf den Tisch. Dann schüttelte er sein langes gewelltes Haar auf, dessen frisurtechnische Gestaltung wohl den Haarschneideunterlagen von Mel Gibsons Rolle in Braveheart geschuldet war, und begann mit erwartungsgemäß akzentbehafteter Stimme zu sprechen. >>Grüße Esther! Und grüße wer auch immer du bist. Musst wohl der langerwartete neue Arbeitskollege sein, denn mit einem Stecher lässt sich die gute Esther so gut wie nie hier blicken. Ich bin jedenfalls der Sepp und besitze den ganzen Laden hier, also benimm dich sonst gibt’s einen Tritt in den Arsch. Cheers!<< >>Neuer Arbeitskollege?<<, fragte Robert mit gerunzelter Stirn und ungläubigen Gesichtsausdruck, nachdem der Besitzer genauso schnell wieder hinter der Bar verschwand, wie er gekommen war. Esther schob einen der zwei Krüge zu Robert hin, zündete den Joint an, und reichte auch diesen an ihren Gegenüber . >>Du trinkst jetzt erst einmal ein paar Schluck, nimmst ein paar Züge, und dann werden wir über alles, was mir auf die Schnelle einfällt und was von Relevanz ist, quatschen.<< Robert setzte vor allem den ersten Teil von Esthers geplantem Programm ohne weiteren Kommentar in die Tat um.
Nach den ersten paar Schluck des herb schmeckenden No -Name -Bieres, das wie eine Art wundersames Lebenselixier durch seinen ganzen Körper strömte, und der eingehenden mehrmaligen Inhalation überstarken Marihuanas, ließ bei Robert erst einmal alles aus. Irgendwie fühlte er sich gleich einmal körperlich schwer sediert, aber trotzdem noch konzentrationsfähig. >>Geiles Zeug<<, dachte er sich, lehnte sich mit ausgestreckten Füßen zurück und sah Esther zum ersten Mal, seit sie sich ihm vorgestellt hatte, etwas genauer an. Robert hatte einmal in einer Boulevardzeitung gelesen, dass Männer an die zwanzigmal pro Tag an Sex denken und genau so ein Tageszeitpunkt hatte sich gerade eingestellt, denn Esther war hübsch und zwar so richtig. Sie war keine perfekte Hochglanzmagazin-Schönheit, und obwohl großgewachsen, auch kein steriler Model -Typ. Aber sie hatte Ausstrahlung, weibliche Rundungen sowie ein interessantes Gesicht, welches durch einen silbernen Nasenring noch zusätzlich betont wurde. Ihre unglaublich tiefen braunen Augen passten wie angegossen zu ihrem offenen und leicht gewellten schulterlangen hellblonden Haar. Die Form ihrer Brüste konnte er klarerweise nur erahnen, da sie unter einem etwas zu weitem ärmellosen Girlie-Shirt der Band Sonic Youth verborgen lagen. Wenn sie nur halb so gut waren, wie die ersten Alben der Band, dann wusste er jetzt schon, dass er sie gerne einmal anfassen würde. Sie war alternativ, irgendwie Achtzigerjahre-Style, und er schätzte sie auf maximal fünfundzwanzig. Sie trug einen schwarzen Minirock und darunter – wie konnte es anders sein – rote Leggings, die in achtlöchrigen ausgewetzten Doc Martens verschwanden. Auch diese Körperregion ließ viel Platz für seine sexuellen Fantasien, die relativ bald zugunsten von Interesse, Verwunderung, Entsetzen und Erstaunen verblassen würden. Denn Bezirksinspektorin Esther Braun begann erst einmal damit, Robert vor vollendete Tatsachen zu stellen, bevor sie ihm zwei Stunden, drei große Biere und drei Tüten lang eine kleine Einführung über das Jenseits und das Grazer Jenseits im Speziellen gab.
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