Ich lachte ungläubig, während Sherlock Holmes sich in sein Sofa zurücklehnte und kleine, wellenartige Ringe aus Rauch gegen die Zimmerdecke blies.
»Was den letzten Teil anbelangt, so sehe ich mich außerstande, dies nachzuprüfen«, sagte ich, »doch ansonsten ist es nicht schwierig, einige Einzelheiten über das Alter des Mannes und seine berufliche Laufbahn in Erfahrung zu bringen.«
Ich nahm das medizinische Handbuch aus meinem Bücherschrank und schlug die Seite mit seinem Namen auf. Es gab mehrere Mortimers, jedoch nur einen, der auf unseren Besucher passte. Laut las ich den entsprechenden Eintrag vor:
»Mortimer, James, M. R. C. S. (Member of the Royal College of Surgeons, Mitglied der königlichen Akademie der Medizin, A. d. Ü.), 1882, Grimpen, Dartmoor, Devon. Assistenzarzt am Charing Cross Hospital von 1882 bis 1884. Gewinner des Jackson-Preises für vergleichende Pathologie mit der Studie Ist Krankheit ein Atavismus . Korrespondierendes Mitglied der schwedischen Pathologischen Gesellschaft. Verfasser von Einige Launen des Atavismus (Lancet 1882), Machen wir Fortschritte? (Zeitschrift für Psychologie, März 1883). Amtsarzt in den Gemeinden Grimpen, Thorsley und High Barrow.«
»Keine Erwähnung dieses örtlichen Jagdvereins, Watson«, sagte Holmes mit boshaftem Lächeln, »aber ein Landarzt, wie du äußerst scharfsinnig erkannt hast. Meiner Ansicht nach sind meine Schlussfolgerungen im Großen und Ganzen bestätigt. Was seinen Charakter anbelangt, so bezeichnete ich ihn, wenn ich mich recht entsinne, als liebenswürdig, ohne Ehrgeiz und zerstreut. Es ist meine Erfahrung, dass in dieser Welt nur liebenswürdige Menschen solch anerkennende Geschenke erhalten. Nur jemand ohne Ehrgeiz lässt die Aussicht auf eine Londoner Karriere fahren und begibt sich aufs Land. Und nur ein zerstreuter Mensch lässt seinen Spazierstock anstelle seiner Visitenkarte zurück, nachdem er eine Stunde vergeblich in deiner Wohnung auf dich gewartet hat.«
»Und der Hund?«
»Hat die Angewohnheit, seinem Herrn den Stock hinterherzutragen. Da der Stock recht schwer ist, hielt der Hund ihn in der Mitte, wo die Abdrücke seiner Zähne deutlich zu erkennen sind. Angesichts des Abstands zwischen den Abdrücken erscheint mir sein Kiefer zu breit für einen Terrier, aber nicht breit genug für eine Bulldogge. Es könnte vielleicht ... Natürlich, bei Jupiter, es ist ein kraushaariger Spaniel!«
Während er sprach, war er aufgestanden und im Zimmer auf und ab gegangen. Nun blieb er in der Fensternische stehen. In seiner Stimme lag ein solcher Ausdruck von Überzeugung, dass ich überrascht aufblickte.
»Mein lieber Freund, wie um alles in der Welt kannst du dir da so sicher sein?«
»Aus dem einfachen Grund, weil ich den Hund vor unserer Haustüre sehe. Und da klingelt auch schon sein Besitzer. Bleib da, Watson, ich bitte dich. Er ist schließlich ein Kollege von dir und deine Anwesenheit könnte hilfreich sein. Das ist jetzt der dramatische Augenblick des Schicksals, Watson, da du einen Schritt auf der Treppe hörst, im Begriff, in dein Leben zu treten, und du hast keine Ahnung, ob es sich zum Guten oder zum Bösen wenden wird. Was wird wohl Dr. James Mortimer, der Mann der Wissenschaft, von Sherlock Holmes, dem Experten für Verbrechen, wollen? Treten Sie ein!«
Die Erscheinung unseres Besuchers war eine Überraschung für mich, denn ich hatte einen typischen Landarzt erwartet. Er war ein recht großer, dünner Mann mit einer langen, fast schnabelartigen Nase, die zwischen zwei scharf blickenden grauen Augen hervorragte, welche eng beisammen standen und hinter goldgefassten Brillengläsern hell funkelten.
Seine Kleidung war zwar einem Arzt gemäß, doch wirkte sie vernachlässigt, denn sein Rock war leicht schmuddelig und seine Hose abgenutzt. Obwohl er noch jung war, hatte er eine gebeugte Haltung, schob beim Laufen den Kopf vor sich her und vermittelte den Eindruck aufmerksamen Wohlwollens. Als er das Zimmer betrat, erblickte er den Stock in den Händen meines Freundes und schoss mit erfreutem Ausruf darauf zu. »Ich bin so froh«, sagte er, »ich war nicht sicher, ob ich ihn hier oder im Reedereibüro vergessen hatte. Um nichts in der Welt möchte ich diesen Stock verlieren!«
»Ein Geschenk, wie ich sehe«, sagte Holmes.
»So ist es.«
»Vom Charing Cross Hospital?«
»Von ein paar Freunden dort, anlässlich meiner Hochzeit.«
»Oh, oh, das ist nicht gut!« , sagte Holmes und schüttelte seinen Kopf.
Dr. Mortimer schaute leicht verwundert durch seine Brille.
»Was ist daran nicht gut?«
»Ach, Sie haben nur unsere hübschen Schlussfolgerungen durcheinandergebracht. Ihre Hochzeit, sagen Sie?«
»Ja, ich habe geheiratet und daher die Arbeit im Krankenhaus aufgegeben, um mich selbstständig zu machen.«
»Na, dann haben wir uns doch nicht allzu sehr geirrt«, sagte Holmes. »Und nun, Dr. James Mortimer ....«
»Mr. Mortimer, einfach Mr. einfaches Mitglied der medizinischen Akademie.«
»Und jemand, der die Dinge offenbar genau nimmt.«
»Ein dilettierender Wissenschaftler, Mr. Holmes, ein Muschelsammler am Strand des großen, unbekannten Meeres. Ich nehme doch an, dass ich das Vergnügen mit Mr. Holmes habe?«
»Ja, und dies ist mein Freund Dr. Watson.«
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Ich habe schon von Ihnen im Zusammenhang mit Ihrem Freund gehört. Sie interessieren mich sehr, Mr. Holmes. Ich hatte kaum einen solch dolichozephalischen Schädel erwartet, der so ausgeprägt supra-orbital entwickelt ist. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich einmal mit dem Finger über Ihre parietale Fissur fahre? Ein Abguss Ihres Schädels, Mr. Holmes, wäre … zumindest bis das Original zu haben ist, eine Zierde für jedes anthropologische Museum. Ich will nicht ins Schwärmen geraten, aber ich muss gestehen, dass mich ihr Schädel fasziniert.«
Sherlock Holmes bot unserem merkwürdigen Gast einen Stuhl an. »Wie ich sehe, sind Sie auf Ihrem Fachgebiet ein ebensolcher Enthusiast wie ich auf dem meinen«, sagte er. »Aus Ihrem Zeigefinger schließe ich, dass Sie ihre Zigaretten selbst drehen. Haben Sie keine Hemmungen zu rauchen, wenn Ihnen danach ist.«
Mr. Mortimer zog Tabak und Papier hervor und drehte sich mit überraschender Geschicklichkeit eine Zigarette. Seine langen, zittrigen Finger wirkten so flink und ruhelos wie die Fühler eines Insekts.
Holmes blieb still, aber seine kurzen, aufmerksamen Blicke verrieten mir sein Interesse an unserem seltsamen Besucher.
»Ich vermute«, sagte er schließlich, »Sie haben mir nicht sowohl gestern Abend als auch heute ein weiteres Mal die Ehre Ihres Besuches erwiesen, nur um meinen Schädel zu untersuchen?«
»Nein, Mr. Holmes, obwohl ich wirklich erfreut bin, dazu Gelegenheit gehabt zu haben. Ich komme zu Ihnen, weil mir bewusst geworden ist, dass ich selbst kein sonderlich praktischer Mensch bin und mich plötzlich mit einem äußerst ernsten und ungewöhnlichen Problem konfrontiert sehe. Und da Sie, soweit ich weiß, der zweitbeste Fachmann in Europa ...«
»Tatsächlich? Darf ich fragen, wer die Ehre hat, die Nummer Eins zu sein?«, fragte Holmes mit einem Anflug von Schroffheit.
»Einem Mann von exaktem wissenschaftlichem Verstand muss das Werk von Monsieur Bertillon unvergleichlich erscheinen.«
»Hätten Sie dann nicht besser ihn um Rat gefragt?«
»Von exaktem wissenschaftlichem Verstand, sagte ich. Was praktische Angelegenheiten anbelangt, so sind Sie zweifellos der konkurrenzlos Beste. Ich hoffe, Mr. Holmes, ich habe Sie versehentlich nicht ...«
»Es geht«, sagte Holmes. »Ich glaube, Dr. Mortimer, es wäre angebracht, wenn Sie nunmehr so freundlich wären und ohne weitere Umschweife berichteten, welcher genauen Art das Problem ist, bei welchem Sie meine Hilfe erbitten.«
Der Fluch der Baskervilles
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