Die Kartause von Parma
Stendhal
Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Impressum
Am 15. Mai 1796 hielt der General Bonaparte seinen Einzug in Mailand an der Spitze jener jungen Armee, die unlängst die Brücke von Lodi überschritten und der Welt gezeigt hatte, daß Cäsar und Alexander nach so vielen Jahrhunderten einen Nachfolger hatten.
Die Wunder von Heldentum und Genie, deren Zeuge Italien geworden, rüttelten das Volk rasch aus seinem Schlaf. Noch acht Tage vor dem Einrücken der Franzosen hatten die Mailänder in ihnen nur Brigantengesindel gesehen, das vor den Truppen Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät immer Reißaus nahm. So wenigstens wiederholte es ihnen dreimal wöchentlich ein handgroßes, auf schlechtem Papier gedrucktes Zeitungsblatt.
Im Mittelalter hatten die Mailänder eine Tapferkeit bewiesen, die der französischen während der Revolution ebenbürtig war und es verdient, daß ihre Stadt von den deutschen Kaisern der Erde gleichgemacht ward. Seitdem sie sich aber in getreue Untertanen verwandelt hatten, bestand ihre Haupttätigkeit darin, Sonette auf Taschentücher aus rosenroter Seide drucken zu lassen, wenn sich eine Tochter aus dem oder jenem reichen oder vornehmen Hause verheiratete. Zwei oder drei Jahre nach diesem wichtigen Abschnitt ihres Lebens nahm die junge Dame einen Cicisbeo, ja bisweilen prangte der Name des von der Familie des Gatten erkorenen Begleiters schon mit im Ehevertrag. Es war ein Riesensprung von diesen verweichlichten Sitten zu den gewaltigen Erregungen, die das unerwartete Erscheinen des französischen Heeres verursachte. Sogleich kamen neue und leidenschaftliche Zustände auf. Am 15. Mai 1796 ward ein ganzes Volk plötzlich gewahr, daß alles, was es bis dahin geachtet hatte, höchst lächerlich und mitunter verächtlich war. Der Abmarsch des letzten österreichischen Regiments bezeichnete den Sturz der alten Anschauungen. Sein Leben aufs Spiel zu setzen, kam in Mode. Nach Jahrhunderten voll Frömmlertum und fader Liebelei erkannte man, daß man, um glücklich zu sein, etwas mit ernster Leidenschaft lieben und im Notfall sein Leben in die Schanze schlagen müsse. Lange, tiefe Nacht hatte seit der eifersüchtigen Gewaltherrschaft Karls V. und Philipps II. geherrscht. Man stürzte ihre Bildsäulen, und mit einem Male war alles von Licht umflutet. In den letzten fünfzig Jahren, während die Ideenwelt der Enzyklopädisten und Voltaires immer tiefer Wurzel schlug, hatten die Mönche dem lieben Mailänder gepredigt, daß Lesen und sonst etwas Lernen eine recht überflüssige Mühe sei. Wenn man nur seinem Pfarrer gewissenhaft den Zehnten entrichte und ihm jede kleine Sünde getreulich beichte, so dürfe man mit ziemlicher Bestimmtheit auf ein herrliches Plätzchen im Paradiese rechnen. Um das ehemals furchtbare und unbotmäßige Volk vollends zu schwächen, hatte ihm Österreich um geringe Gegenleistung das Vorrecht verkauft, dem kaiserlichen Heere keine Rekruten zu stellen.
Anno 1796 bestand die Besatzung von Mailand aus vierundzwanzig rotröckigen Tagedieben, die im Verein mit vier prächtigen ungarischen Grenadierregimentern die Stadt hüteten. Die Freiheit der Sitten war zügellos, aber Leidenschaft etwas sehr Seltenes. Abgesehen von der Unbequemlichkeit, den Priestern alles beichten zu müssen, wenn man nicht schon in dieser Welt zugrunde gehen wollte, schmachteten die braven Mailänder übrigens noch in gewissen kleinen monarchischen Fesseln, die nicht weniger unangenehm waren. So war zum Beispiel der Erzherzog, der seinen Sitz in Mailand hatte und im Namen des Kaisers, seines Vetters, schaltete und waltete, auf den gewinnbringenden Einfall gekommen, Getreidehandel zu treiben. Die Bauern durften ihr Korn erst verkaufen, wenn die Speicher Seiner Hoheit gefüllt waren.
Im Mai 1796, drei Tage nach dem Einzug der Franzosen, hörte ein junger, etwas närrischer Miniaturmaler, der später berühmt gewordene GrosAntoine Jean (Baron) Gros (1771-1835), berühmt geworden durch sein bekanntes Bild ›Bonaparte auf der Brücke von Arcole‹, später der bekannteste Maler des ersten Kaiserreichs., damals Schlachtenbummler im Gefolge des Heeres, im Café dei Servi (das derzeit in Mode war) von den Machenschaften des sehr beleibten Erzherzogs erzählen. Er nahm das Preisverzeichnis der Eissorten, das auf einem Blatt groben gelben Papiers gedruckt war, und zeichnete auf die Rückseite den dicken Erzherzog, dem gerade ein französischer Soldat sein Bajonett in den Bauch stieß. Statt Blut entströmte der Wunde unglaublich viel Getreide. Was man Witz und Karikatur zu nennen pflegt, war in jenem Lande des schlauen Despotentums etwas Unbekanntes. So staunte man das von Gros auf dem Tisch im Kaffeehaus liegen gelassene Spottbild wie ein vom Himmel herabgefallenes Wunderding an. Über Nacht ward es in Kupfer gestochen und anderntags in zwanzigtausend Abzügen verkauft.
Am nämlichen Tage verkündeten Maueranschläge die Erhebung einer Kriegssteuer von sechs Millionen Franken für die Bedürfnisse der französischen Armee, die binnen kurzem sechs Schlachten gewonnen und ein Dutzend Provinzen erobert hatte, aber Mangel an Stiefeln, Hosen, Röcken und Kopfbedeckungen litt.
Das Maß von Glück und Freude, das mit diesen so armen Franzosen in die Lombardei drang, war so groß, daß nur die Geistlichkeit und etliche Adlige die Bürde dieser Auflage von sechs Millionen empfanden, der bald noch manche andere folgen sollte. Die französischen Soldaten lachten und sangen den lieben langen Tag. Sie waren alle noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, und ihr Obergeneral galt mit seinen siebenundzwanzig für den ältesten Mann im Heer. Dieser Frohsinn, diese Jugend und Sorglosigkeit standen in drolligem Widerspruch zu den grimmigen Prophezeiungen der Mönche, die seit einem halben Jahre von der Kanzel herab verkündet hatten, die Franzosen seien Ungeheuer, bei Todesstrafe verpflichtet, alles niederzubrennen und alle Welt um einen Kopf kürzer zu machen. Jedes Regiment führe dazu eine Guillotine mit sich.
Auf dem Lande sah man vor den Türen der Bauernhäuser die französischen Soldaten sitzen und das Jüngste ihrer Quartierwirtin in den Schlaf wiegen, und fast allabendlich improvisierte irgendein Geige spielender Tambour ein Tanzfest. Da die Kontertänze viel zu gelehrt und schwierig waren, als daß die Soldaten, die sie selber nicht recht konnten, sie den Lombardinnen beizubringen vermochten, so lehrten diese vielmehr die jungen Franzosen die Monferrina, die Saltarola und andere italienische Tänze.
Die Offiziere waren, soweit möglich, bei reichen Leuten untergebracht. Sie bedurften tatsächlich einiger Aufbesserung. So hatte zum Beispiel ein Leutnant namens Robert einen Quartierzettel für den Palast der Marchesa del Dongo erhalten. Dieser Offizier, ein flotter, junger Ausgehobener, nannte bei seiner Einkehr in dieses Herrenhaus nichts sein eigen als ein Sechsfrankenstück, das er in Piacenza bekommen hatte. Nach dem Übergang über die Brücke von Lodi hatte er einem feschen gefallenen österreichischen Offizier ein Paar prächtige, nagelneue Nankinghosen abgenommen, just zu gelegener Zeit. Seine Offiziersepauletten waren von Wolle, und das Tuch seines Feldrockes war an das Futter festgenäht, damit das Ganze zusammenhalte. Aber noch trauriger war ein anderer Umstand. Die Sohlen seiner Stiefel bestanden aus einem Stück Filz von einem Soldatenhut, den er ebenfalls auf dem Schlachtfeld an der Brücke von Lodi aufgelesen hatte. Diese Notsohlen waren so sichtbar mit Bindfaden an das Oberleder genäht, daß der Leutnant Robert in die tödlichste Verlegenheit geriet, als der Haushofmeister des Hauses del Dongo im Zimmer erschien, um ihn feierlichst einzuladen, an der Mittagstafel der Frau Marchesa teilzunehmen. Bursche und Leutnant verwendeten die zwei Stunden bis zu der peinlichen Mittagstafel dazu, den Feldrock nach Möglichkeit zusammenzuflicken und die unglücklichen Bindfäden an den Schuhen mit Tinte zu schwärzen. Endlich schlug die gefürchtete Stunde. Lassen wir ihn selbst berichten:
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