»Ja, an manchen Tagen ist sowas wirklich unmöglich«, antwortet sie laut.
»Was? Flüstert ihr etwa über mich?«
Anyta schüttelt ihren Kopf, sodass ihr wieder dunkelbraune Strähnen ins Gesicht fallen. »Niemals, bist doch nur du.«
Samuel versteht die Anspielung und lacht laut auf, während wir gemeinsam den Aufzug im zehnten Stock verlassen.
Zu viert betreten wir das Klassenzimmer. Anyta fällt Talika, ihrer besten Freundin, um den Hals und die beiden tauschen auf dem Weg zu ihren Plätzen Neuigkeiten aus. Von meinem Sitzplatz kann ich Anyta unbemerkt beobachten. Emilian neben mir kann problemlos an ihr vorbeisehen, da er viel größer ist als sie. Auch ein Grund, warum wir weiter hinten sitzen. Unsere Plätze sind am Fenster, was ich besonders toll finde. Ich kann bis zum Direktorenhaus sehen und die Landschaft genießen, wenn mir während des Unterrichts langweilig ist.
Ich packe meine Stifte und einen Block aus meinem Rucksack und will etwas zu Emilian sagen, als unsere Mathelehrerin ins Zimmer kommt. Frau Klarkson hat ihre blonden Haare heute hochgesteckt und trägt ihre übliche Lehreruniform. Auf die dunkelblaue Bluse ist unser Schullogo gedruckt: Ein großes, weißes »E« in einem Kreis. Das Symbol steht für unsere Welt Edahcor.
ANYTA
Zusammen mit Talika betrete ich die Laufstation.
»Ich hoffe, dass ich das nicht bereuen werde, aber bei der Wahl zwischen Laufen und Springen ist mir Laufen eindeutig lieber.« Ihre grünen Augen flehen mich an.
»Wie kommst du auf die Idee, dass du das bereuen könntest? Im Springen wirst du ganz sicher von Fanny geschlagen. Sie ist dort doch die Beste.«
»Ja und beim Laufen bist du es.«
»Ach was, wenn ich nicht in Form bin, bin ich nicht einmal eine Konkurrenz für Schnecken.«
»Hör auf, Anyta! Du bist besser als der schnellste Junge aus der zwölften Klasse. Sag doch bitte nicht sowas! Sonst muss ich mir wirklich Sorgen um dich machen.«
»Oder um die Schnecken«, kontere ich lachend.
Talika lacht kurz mit und seufzt dann leise, als sie versucht, sich den Startblock einzurichten.
Mein Blick schweift über das Sportgelände. Auf der riesigen, frisch gemähten Wiese stehen sich zwei große Fußballtore gegenüber und auch die weißen Linien sind von hier aus gut sichtbar.
Links neben unseren Hartplätzen sind die Sprungflächen. Wenn ich meinen Blick nach oben richte, sehe ich das große Schulgebäude in seiner kompletten Pracht vor mir. Unser Umkleideraum ist Teil des ersten Gebäudeblocks, aus dem jetzt unsere Jungs herauskommen.
Als ich Renko erkenne, fühlt es sich an, als würde mein Herz einen Salto machen. Er und Emilian winken uns fröhlich zu und ich erwidere die Geste. Talika nicht, denn sie ist immer noch mit dem Startblock beschäftigt.
»Wenn die Teile nicht so klemmen würden, hätte ich wenigstens schon mal eine Chance, überhaupt loslaufen zu können!«
»Warte, ich helfe dir.« Mit Leichtigkeit stelle ich die Fußstützen auf die richtige Höhe.
Talika stellt sich auf. »Endlich!«
»Ich weiß gar nicht, warum du das immer so kompliziert findest. Das sind zwei, drei schnelle Handgriffe.«
»Für dich vielleicht! Kannst du mir dafür sagen, was man tun und beachten muss, wenn man Nasenbluten bekommt?«
»Okay, ist ja schon gut. Jeder hat seine Stärken.«
Talika lächelt mich an. Sie ist diejenige, die sich stundenlang damit beschäftigen kann, Bücher über gesunde Ernährung, Medikamente und Heilung zu lesen.
»Anyta! Talika! Wird das heute eigentlich nochmal was?« Eben noch war unsere Sportlehrerin die ganze Zeit bei den Springerinnen und hat Talika und mich – die Einzigen, die sich heute für Laufen gemeldet haben – offenbar total vergessen.
»Entschuldigung! Wir kommen schon!«
Wir gehen auf unsere Positionen, beobachten die runde Klappe weiter vorne und warten auf den Knall, der uns das Startsignal gibt. Langsam zähle ich die Schritte mit.
»Drei, auf die Plätze - Zwei, fertig - Eins und los!«
In diesem Augenblick hören wir das erwartete Geräusch und laufen los. In meinem Kopf ist im Moment nur noch der Drang, schneller zu werden. Ich setze einen Fuß vor den nächsten, ohne darüber nachzudenken. Meine Umgebung nehme ich gar nicht mehr richtig wahr. Ich laufe weiter und weiter.
Plötzlich höre ich ein lautes »STOP!« und bin in der Gegenwart. Ich stehe bereits auf dem Rasen, weit hinter der Ziellinie. Talika läuft gerade über das Ziel und ringt nach Luft.
»Das war ein neuer Rekord, Anyta! Sechzig Meter in nur sieben Sekunden!« Die Sportlehrerin lächelt, während sie die Zahlen auf ihrem Computerarmreif vergleicht.
»Danke, Frau Schöffler«, sage ich stolz.
»Und wie viel habe ich?«, fragt Talika und schnappt nach Luft.
»Talika Evans, wo haben wir dich denn? Du warst 10,7 Sekunden. Auch nicht übel. Das ist dein persönlicher Rekord.«
»Juhu!«, ruft Talika begeistert.
EMILIAN
»Nehmt bitte diese Sicherungsseile an euch. Ihr sollt zum Aufwärmen diese Kletterwand hinaufklettern, ist die einfache Stufe«, sagt Herr Schöffler, nachdem er die Fußballer versorgt hat.
Ich schaue zur Fußballwiese und beobachte das Team von Julius, das sich wieder bedrohlich nah am Tor von Renkos Mannschaft aufhält. Wenn ich heute statt Klettern Fußball genommen hätte, könnte ich meinem besten Freund jetzt helfen, aber Fußball wird öfters angeboten und ich möchte das Klettern unbedingt lernen.
»Schön einen Fuß nach dem anderen setzen, verstanden?«
Wir nicken und rüsten uns für den Aufstieg.
Samuel seufzt. »Warum habe ich Idiot das Klettern genommen? Ich hätte doch auch jetzt hinter einem Ball herlaufen können.«
»Du kannst jederzeit aussteigen, Samuel. Du musst es nur sagen.«
»Nein, nein, Herr Schöffler. Klappt schon. Irgendwie ...« Beim letzten Wort zittert seine Stimme.
Ich klopfe ihm aufmunternd auf die Schulter. »So kenne ich dich gar nicht, Samuel. Bist du nicht eben noch die Treppen nach oben gesprintet, auf dem Weg in den zwölften Stock?«
»Das ist was völlig anderes!«
Wir beginnen mit dem Aufstieg.
»Nein, Niko! Du musst dich auf den kommenden Schritt fixieren, nicht nach unten schauen. Das verstärkt nur die Angst und verunsichert dich.«
Niko ist schon ziemlich weit oben.
Als meine Hand den nächsten Boulderstein berührt, schrecke ich zusammen. Er erinnert mich an die blaue Kugel von gestern Abend. Bekomme ich jetzt erneut dieses Bild vor Augen?
Ich schüttle meinen Kopf, um meine Gedanken wieder zu sortieren, und sehe wieder zu Samuel, der immer noch mit einem Fuß auf dem Boden steht.
»Komm gar nicht erst auf die Idee, mir zu helfen!«, droht er mir. Auf seiner Haut bilden sich jetzt schon kleine Schweißperlen und seine sonst so freundlichen Augen verengen sich zu Schlitzen, als er mit grimmigem Blick auf meine Antwort wartet.
»Hatte ich nicht vor«, sage ich nur und mache die nächsten zwei Schritte.
»Und auf geht’s, Samuel!«, fordert unser Lehrer ihn auf.
Angespannt versucht er die Kletterwand zu erklimmen, doch er kommt nicht weit. Nach dem dritten Schritt rutscht er bereits ab. Er rappelt sich wieder auf, kommt zwei weitere Etappen nach oben, nur um dort erneut abzurutschen.
»Warte, Samuel, ich helfe dir«, sagt schließlich unser Sportlehrer und gibt ihm Anweisungen, welche der bunten Klettergriffe für Anfänger eher nützlich sind.
Читать дальше