»Ich habe keine, aber ich freue mich auch, wenn du mir das Zeitungsblatt bringst. Der Briefträger trägt auch Zeitungen aus.«
Das Kind legte die Stirn in nachdenkliche Falten, dann stürmte es davon. Heute früh hatte es gesehen, daß Tante Agnes in einem Kasten eine Menge Briefe verwahrte. Der Kasten war bei Tante Agnes im Zimmer, und Bärbel wollte nun rasch diese Briefe holen, um auch Briefträger zu spielen.
Der schöne, polierte Kasten stand auf der Kommode, ein kleiner Schlüssel steckte im Schloß. Bärbels Herz hüpfte vor Freude, als sie die vielen Briefe in ihre Markttasche schüttete. Nun konnte sie auch Briefträger spielen, durfte an allen Türen im Hause klingeln und die Briefe abgeben.
Begeistert lief Bärbel hinaus in die Küche zu Toni, die eben den Mülleimer in der Hand hatte und im Begriff war, ihn hinunter in den Hof zu tragen.
»Ich komme mit!«
»Nein, Kind, bleib hier«, und schon eilte Toni mit dem Eimer die Treppe hinunter.
Bärbel benützte diese günstige Gelegenheit, um durch die nur angelehnte Tür zu entwischen. Das Kind stieg zunächst empor und klingelte an den beiden gegenüberliegenden Türen.
Man öffnete.
»Der Briefträger bringt dir einen Brief.« Mit ernsthafter Miene reichte Bärbel den aufgeschnittenen Brief hin und stieg, sich seiner Würde vollkommen bewußt, eine Treppe höher hinauf. Auch hier klingelte Goldköpfchen, um den verdutzt Lächelnden die Briefe auszuhändigen.
Bärbel hatte damit aber noch nicht genug. Es machte so großen Spaß, überall zu klingeln.
Toni, die auf dem Hofe mit einem anderen Mädchen sprach, bemerkte es nicht, daß das Kind das Haus verließ, das Nachbargrundstück betrat und hier ebenfalls die Rolle des Briefträgers spielte.
Unten im Laden wurde Goldköpfchen schließlich angehalten. »Diese Briefe hast du wohl deiner Großmutter fortgenommen?«
»Bärbel ist Briefträger«, erklärte das Kind stolz. »Bärbel hat noch viele Briefe.«
Der Geschäftsinhaber, der den Briefbogen herausgezogen hatte, die erste Seite des Schreibens flüchtig las, hielt das Kind zurück.
»Geh nur rasch mit den Briefen wieder heim, kleines Mädchen, oder – gib mir alle Briefe her.«
Energisch schüttelte Bärbel den Kopf. »Die anderen Leute wollen auch Briefe haben, sonst weinen sie.«
»Ich kauf’ dir die Briefe ab, ich gebe dir dafür eine Tafel Schokolade, und du gibst mir die Briefe.«
Auf diesen Handel ging Goldköpfchen schließlich ein. Es übergab dem Kaufmann alle Briefe, nahm die Schokolade in Empfang und kehrte dann stolz nach Hause zurück.
Freudestrahlend berichtete es Toni, daß es überall Briefe abgegeben habe.
»Woher hast du denn Briefe gehabt?«
»Aus dem schönen Kasten.«
»Um Himmels willen, zeige mir rasch, woher hast du die Briefe genommen?«
Lächelnd führte Goldköpfchen Toni ins Zimmer der Tante und wies auf den leeren Kasten.
»Und die Briefe hast du im Hause ausgetragen?«
»Ja, alle haben einen Brief bekommen. – Jetzt gib mir noch mehr!«
Toni schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. »Das Fräulein läßt doch sonst nie den Schlüssel stecken! – Ach, du liebe Güte, – was wird daraus werden!«
Da klingelte es auch schon, der Kaufmann schickte sauber eingewickelt die Briefe herauf. Toni stellte mit dem Kinde ein Verhör an, aus dem hervorging, daß das nur ein Teil der Liebesbriefe war, die Tante Agnes im letzten Jahre von Dr. Wendt erhalten hatte.
Toni wußte sich keinen anderen Rat, als Frau Lindberg herauszurufen und ihr das Vorgefallene zu erzählen.
Die Großmama war ernstlich böse.
»Darfst du etwas fortnehmen, Bärbel? Du darfst weder die Sachen der Großmama noch die von Tante Agnes anrühren. Du bist ein recht unartiges Mädchen, Bärbel!«
Schließlich bekam das Kind noch einige Schläge auf die Hände, und zürnend entfernte sich die Großmama.
Tante Agnes war entrüstet. Natürlich würde man nun im ganzen Hause diese Briefe aufmerksam lesen, ihr süßes Geheimnis würde überall bekannt werden. Das junge Mädchen weinte darüber bitterlich; und es war gut, daß der anwesende Verlobte ihr Trost zusprechen konnte.
»In wenigen Tagen wird unsere Verlobung doch bekannt, liebe Agnes; wir haben uns nichts Unrechtes geschrieben, gräme dich also nicht weiter. Liebesbriefe hat man von jeher geschrieben! Bestraft auch die Kleine nicht weiter; hat sich gelangweilt und wollte Unterhaltung haben.«
Durch Toni wurden die Briefe zurückerbeten. Bärbel war recht kleinlaut geworden, zumal sie während des Abendessens weder von der Großmama noch von der Tante beachtet wurde. Nur Dr. Wendt richtete hin und wieder ein freundliches Wort an die Kleine. Bärbel fühlte sich aber innerlich so unglücklich, daß sie kaum Antwort gab und am liebsten immerfort geweint hätte.
Als das Kind am Abend von Frau Lindberg zu Bett gebracht wurde, gab es noch einmal ernsthafte Ermahnungen.
»Dein Schutzengel wird sehr betrübt sein, Goldköpfchen.«
»Kommt er heute bestimmt?«
»Er kommt immer in der Nacht.«
»Wenn er immer in der Nacht da ist und wacht, dann schläft er wohl am Tage, Großmama? Ja, er schläft bestimmt. – Siehst du, Großmama, wenn er nicht geschlafen hätte, hätte er heute auf Bärbel aufgepaßt.«
»Der Schutzengel ist immer bei dir.«
»Auch wenn ich geklingelt hab’?«
»Auch dann!«
»Warum hat er denn dann nicht gesagt, ich soll nicht klingeln?«
»Er hat eben gedacht, daß du es von allein unterlassen wirst.«
»Ich glaube, Großmama, dem Schutzengel hat es auch dollen Spaß gemacht, daß wir überall geklingelt haben.«
»Wenn du auf dein Herzchen gehört hättest, hättest du fühlen müssen, daß du unrecht getan hast.«
»Großmama, Bärbel hat am Herzen gar nichts gefühlt.«
Frau Lindberg seufzte. »Jetzt schlaf, Bärbel, und bitte nochmals den lieben Gott, daß er dir wieder gut sein möge.«
»Weil ich unartig war, schickt er mir nun wohl nur einen ganz kleinen Schutzengel?«
»Du hast immer denselben großen Schutzengel.«
»Wer hat denn dann die kleinen, nackten Engel?«
»Die werden auch groß.«
»Wenn sie größer werden, bekommen sie dann die weißen Kleider?«
»Ja.«
»Großmama, – das Zwilling ist doch auch ganz klein und ist auch schon in ein Kleid eingewickelt.«
»Bei kleinen Engeln ist das anders.«
»Schämen sich die kleinen Engel nicht, wenn sie nackend sind.«
»Das haben die Engel nicht nötig.«
»Warum denn nicht?«
»Frage nicht so viel, Bärbel. – Wenn du ein Engel sein wirst …«
»Kann ich dann auch nackend ’rumlaufen?«
»Ja.« Frau Lindberg hatte keine Lust mehr, ausführliche Antworten zu geben; so fertigte sie das Kind kurz ab.
»Morgen spiel’ ich Engel, Großmama.«
»Schlaf endlich!«
»Ich glaube, Großmama, mein Schutzengel hat doll gelacht, als wir überall klingelten.«
»Gute Nacht!« Nur durch die Flucht aus dem Zimmer konnte sich die gequälte Großmutter weiteren Fragen des Kindes entziehen.
Am anderen Morgen hatte Frau Lindberg die Unterredung längst vergessen, wurde aber durch Bärbel jäh wieder daran erinnert.
Die Großmama saß mit Agnes am Frühstückstisch, da erschien die Kleine ohne Nachtröckchen.
»Ooch, Großmama, jetzt bin ich ’nen kleiner Engel!«
»Bärbel!«
Sie nahm das Kind, führte es zurück ins Schlafzimmer.
»Du bleibst noch im Bett«, herrschte Tante Agnes die Kleine an, »und wenn du heute nicht sehr artig bist, bekommst du von mir Haue. Schreib dir das gefälligst hinter die Ohren!«
Mit großen Augen schaute Bärbel die Scheltende an. Dann verzog das Kind den Mund.
»Wenn ich noch gar nicht schreiben kann!«
»Dann merke es dir!«
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