Er blickte sich nach seinem Freunde um, der immer noch seinen Brief las, und sah die Bücher auf dem Tisch. In seinen Augen sprang eine träumerische Sehnsucht auf, das drängende Verlangen eines Hungrigen, der etwas Eßbares sieht. Mit einem einzigen impulsiven Schritt und einem Ruck der Schultern von rechts nach links erreichte er den Tisch und begann zärtlich über die Bücher zu streichen. Er betrachtete Titel und Verfassernamen, las Bruchstücke ihres Inhalts, liebkoste die Bände immer wieder mit Augen und Händen und erkannte ein Buch, das er gelesen hatte; die übrigen Bücher und Schriftsteller waren ihm fremd. Ein Band Swinburne fiel ihm plötzlich in die Hand. Er begann darin zu lesen und vergaß bald ganz, wo er sich befand. Sein Gesicht leuchtete. Zweimal blätterte er zurück, um den Namen des Verfassers zu sehen. Swinburne! Den Namen wollte er sich merken. Der Mann hatte Augen im Kopf und hatte wahrhaftig Farben und strahlendes Licht gesehen. Aber wer war Swinburne? War er seit hundert Jahren tot wie die meisten Dichter? Oder lebte und schrieb er noch? Er blätterte zur Titelseite zurück. Ja, er hatte noch andere Bücher geschrieben. Schön, das erste, was er morgen früh tun wollte, war, daß er in die Volksbücherei ging und etwas von dem, was Swinburne geschrieben hatte, zu bekommen suchte. Dann kehrte er wieder zu dem Inhalt des Buches zurück und vergaß alles um sich her. Er bemerkte nicht, daß eine junge Dame ins Zimmer trat. Das erste, dessen er sich bewußt wurde, war die Stimme Arthurs, die sagte:
»Ruth, das ist Herr Eden.«
Er schloß das Buch schnell über dem Zeigefinger, aber noch ehe er sich umwandte, fühlte er sich schon von einem neuen Eindruck durchbebt, dessen Ursache nicht das junge Mädchen, sondern die Äußerung ihres Bruders war. Sein muskulöser Körper barg nämlich höchste Empfindsamkeit. Bei dem geringsten Reiz, den die Außenwelt auf sein Bewußtsein ausübte, loderten seine Gedanken und Gefühle wie Flammen auf. Er war ungewöhnlich empfänglich und reagierte schnell, während seine Phantasie, die stets mit Hochdruck arbeitete, sich immer bemühte, Gleichheiten und Unterschiede festzustellen. »Herr Eden« – das hatte jetzt einen so starken Eindruck auf ihn gemacht – er, den man sein ganzes Leben lang nur »Eden«, »Martin Eden« oder einfach »Martin« genannt hatte! Und jetzt »Herr!« Das war wirklich ein weiter Schritt vorwärts, sagte er sich. Sein Geist schien augenblicklich zu einer ungeheuren Camera obscura zu werden, in der eine endlose Reihe von Bildern aus seinem Leben auftauchte, Bilder von Feuerungsräumen und Mannschaftslogis, von Lagern und Küsten, Gefängnissen und Kneipen, Hospitälern und Elendsvierteln, wobei das Bindeglied eben die Art bildete, wie er in den verschiedenen Situationen angeredet worden war.
Und dann drehte er sich um und sah das Mädchen an. Bei ihrem Anblick verschwanden die Schattenbilder in seinem Kopfe mit einem Schlage. Sie war ein blasses, ätherisches Geschöpf mit großen, träumerischen, blauen Augen und einer Flut goldenen Haares. Von ihrer Kleidung wußte er nichts, als daß sie ebenso wunderbar anzusehen war. Er verglich sie mit einer blaßgoldenen Blume auf schlankem Stiel. Nein, sie war eine Elfe, ein höheres Wesen, eine Gottheit; solche erhabene Schönheit war nicht von dieser Welt. Oder hatten vielleicht die Bücher recht, und es gab viele ihrer Art in den oberen Klassen? Sie hätte gut von diesem Swinburne besungen werden können. Vielleicht hatte er an eine wie sie gedacht, als er in dem Buch, das dort auf dem Tische lag, jenes Mädchen Iseult schilderte. Dies ganze Übermaß von Sinneseindrücken, Gefühlen und Gedanken bestürmte ihn in einem Augenblick. Die wirklichen Dinge, zwischen denen er sich bewegte, geboten ihnen keinen Halt. Er sah, wie sie den Arm ausstreckte und ihm gerade in die Augen blickte, wobei sie ihm so unbefangen die Hand drückte, als wäre sie ein Mann. Die Frauen, die er bisher kannte, hatten solchen Händedruck nicht. Die meisten von ihnen gaben einem überhaupt nicht die Hand. Eine Flut von Gedankenverbindungen und Erinnerungen daran, wie er die Bekanntschaft von Frauen gemacht hatte, schlug über seinem Bewußtsein zusammen und drohte, es unter sich zu begraben. Aber er schüttelte sie ab und betrachtete das Mädchen. Noch nie hatte er ein solches weibliches Wesen gesehen. Die Frauen, die er gekannt hatte! Sofort reihten sich all diese Frauen zu beiden Seiten neben ihr auf. Eine ewig währende Sekunde stand er mitten in einer Bildergalerie, deren Mittelpunkt sie bildete, und um sie scharten sich viele Frauen, die alle mit blitzschnellem Blick gewogen und gemessen werden sollten, während sie selbst die Gewichts- und Maßeinheit darstellte. Er sah die blassen, kränklichen Gesichter der Fabrikarbeiterinnen und die albernen, lauten Mädchen südlich der Market Street, Mädchen aus den Viehdistrikten und dunkelhäutige, zigarettenrauchende Mexikanerinnen; und diese wurden wieder verdrängt von puppenhaften Japanerinnen, die auf Holzsohlen geziert einhertrippelten, von Eurasierinnen, deren feine Züge vom Verfall der Rasse gekennzeichnet waren, von vollblütigen, blumengeschmückten, braunhäutigen Südseeinsulanerinnen. Sie alle wurden ausgelöscht durch ein groteskes und furchtbares Nachtgezücht – schlampige, watschelnde Geschöpfe aus den Straßen Whitechapels, schnapsgedunsene Hexen aus den Bordells, den ganzen großen Höhlenschwarm von Harpyen, unflätig und gemein, Ungeheuer in Weibsgestalt, die sich auf den Seemann stürzen, der Abschaum der Häfen, der schlammige Bodensatz der menschlichen Tiefen.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Eden?« sagte das Mädchen. »Seit Arthur uns von Ihnen erzählte, habe ich mich so darauf gefreut, Sie kennenzulernen. Es war tapfer von Ihnen…«
Er machte eine abwehrende Handbewegung und murmelte, das, was er getan habe, sei nicht der Rede wert. Jeder andere hätte genauso gehandelt. Sie bemerkte, daß seine Hand von frischen, in der Heilung begriffenen Schrammen bedeckt war, und ein Blick auf die andere, herabhängende Hand zeigte ihr, daß diese ebenso zugerichtet war. Ihr rasches, prüfendes Auge entdeckte auch eine Narbe an seiner Wange, eine zweite, die unter dem Stirnhaar hervorsah, und eine dritte am Halse, wo sie unter dem steifen Kragen verschwand. Sie unterdrückte ein Lächeln beim Anblick des roten Strichs, den der Kragen in die sonnenverbrannte Haut gerieben hatte. Er war offenbar nicht gewohnt, steife Kragen zu tragen. Ihr Blick schweifte auch über seine Kleidung und bemerkte den gewöhnlichen, unschönen Schnitt, den Rock, der sich an den Schultern beutelte, und die Falten in den Ärmeln, die seine mächtigen Muskeln ahnen ließen.
Während er abwinkte und murmelte, daß er nichts Besonderes getan hätte, folgte er ihrer Aufforderung, sich zu setzen. Er fand noch Zeit, die Leichtigkeit zu bewundern, mit der sie sich setzte, dann taumelte er nieder auf einen Stuhl, der dem ihren gegenüberstand, überwältigt von dem Bewußtsein seiner eigenen Ungeschicklichkeit. Das war ihm etwas ganz Neues. Sein ganzes Leben lang, bis zu diesem Tage, hatte er nicht darauf geachtet, ob er gewandt oder linkisch war. Er war gar nicht auf derartige Gedanken gekommen. Er setzte sich vorsichtig auf die Stuhlkante und wußte nicht, wo er mit seinen Händen bleiben sollte. Wohin er sie auch steckte, waren sie ihm im Wege. Arthur verließ das Zimmer, und Martin Eden sah ihm mit sehnsüchtigen Blicken nach. Allein im Raum mit diesem blassen, elfenhaften Mädchen kam er sich ganz verloren vor. Hier gab es keinen Kellner, bei dem er sich etwas zu trinken bestellen, keinen Jungen, den er nach einer Kanne Bier um die Ecke schicken konnte, um durch einen gemeinsamen Trunk die Grundlage für eine freundschaftliche Verständigung zu schaffen.
»Sie haben eine Narbe am Hals, Herr Eden«, sagte das Mädchen. »Wie haben Sie die bekommen? Das ist sicher ein ganzes Abenteuer.«
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