Der Präsident erhob sich und sprach mit feierlicher Stimme:
»Die Geschworenen werden sich in das Berathungszimmer begeben. Die Eltern des Angektagten fordre ich auf, sich zu entfernen, während das Urtheil gesprochen wird.«
Das greise Ehepaar — denn Beide waren in zwei Monaten um zwanzig Jahre gealtert — stand auf und verließ, von zwei Huissiers geführt, den Saal, nachdem sie noch einen letzten Blick voll Thränen auf ihren unglücklichen.Sohn geworfen,der ihn mit einem Lächeln erwiderte, um ihren Muth zu stärken.
Diese Scene machte einen lebhaften Eindruck auf die Zuhörer. Während sie sich entfernten, hörten Onesimus Raynal und seine Gattin von mehreren Stimmen die Worte:
»Die armen Leute!«
Und sie sahen, daß Mancher sich die Thränen trocknete.
In diesem Augenblick hätte man die Freisprechung Jeans gewünscht, denn im Grunde ist das menschliche Herz gut.
Die Geschworenen zogen sich in das Berathungszimmer zurück.
»Man führe den Angeklagten hinaus,« sagte der Präsident.
Jean entfernte sich in Begleitung zweier Gensd’armen.
Nach einer Viertelstunde traten die Geschworenen wieder ein.
Der Obmann sprach Folgendes:
»Auf unsre Seele und Gewissen, ja, wir erklären den Angeklagten Jean Raynal der freiwilligen, mit Vorbedacht ausgeübten Ermordung seines Oheims Valentin Raynal und dessen Dienerin Toinette Belami für schuldig.«
»Man führe den Angeklagten wieder ein,« sagte der Präsident.
Jean trat ein.
»Demgemäß,,« sprach der Präsident, nachdem er und der ganze Gerichtshof, sowie die Zuhörer sich erhoben und Jeder das Haupt entblößt hatte,«.demgemäß verurtheilt das Gericht den Angeklagtem Jean Raynal, zur Strafe des Todes! — Angeklagter, haben Sie noch etwas zu sagen?«
»Nichts, Herr Präsident,« antwortete Jean mit ruhiger Stimme, »als daß auch ich bei meiner Seele und Gewissen und bei dem Gott, der uns hört und in unsere Herzen blickt, schwöre, daß ich unschuldig bin!«
Schweigend und tief erschüttert entfernte sich die Menge.
Als Jeans Vater diese Verurtheilung erfuhr, verließ er die Stadt und man hat nie wieder etwas von ihm gehört. Die Mutter des Verurtheilten wurde wahnsinnig.
Einen Monat nach dieser Sitzung las man in der Sentinelle von Nimes unter dem 16. Juli:
»Gestern hat die Hinrichtung Jean Raynals stattgefunden, dessen Prozeß unsere Leser vor ohngefähr einem Monat gelesen haben. Der Angeklagte hatte das Rechtsmittel der Cassation ergriffen, allein sie wurde verworfen und gestern Morgen wurde ihm angekündigt, daß er nur noch zwei Stunden zu leben habe. Der junge Mann weinte heiße Thränen, während er die Verwerfung seines Gesuchs vernahm; er hat dem Priester gebeichtet, der einige Minuten später in sein Gefängniß kam und der ihn nicht eher als auf dem Schaffott wieder verlassen hat. Nach seiner Beichte hat er zu dem Geistlichen gesagt:
»—Ein so guter Christ man auch sein möge, mein Vater, so ist es doch sehr traurig, unschuldig sterben zu müssen, und besonders in meinem Alter!«
»—Auch unser Herr Christus ist unschuldig gestorben. . .« erwiderte ihm der Priester.
»—Ja, mein Vater, aber er büßte durch seinen Tod die Sünden der Menschen, während der meinige Niemandem nützt!«
»Der Henker ist hierauf eingetreten, um die letzte Toilette des Verurtheilten zu machen.
»— Wünschen Sie noch etwas, ehe Sie sterben?« fragte man diesen. r
»— Ein Blatt Papier, eine Feder und Dinte,« antwortete er.
»Das Verlangte wurde. ihm gebracht und er schrieb Folgendes:
»In dem Augenblicke, wo ich sterben muß,
»verzeihe ich Denen, die mich verurtheilt haben, denn bei
»den Beweisen, die auf mir lasteten, würde ich an ihrer
»Stelle das Nämliche gethan haben. Aber ich
»schwöre nochmals, daß ich unschuldig bin an dem
»Verbrechen, wegen dessen ich den Tod erleide,
»und ich hoffe, daß einst die Wahrheit an den Tag
»kommen wird, damit mein Name, so wie der meines
»armen Vaters, welcher verschwunden, und meiner
»unglücklichen Mutter, die in Wahnsinn verfallen ist,
»wieder zu: Ehren komme.
»Jean Raynal.«
»Am 15. Juli 1825.
»— Mein Vater, sagte der Verurtheilte hierauf zu dem Priester, ich bitte Sie, dieses Papier aufzubewahren; es enthält die Zukunft eines Unglücklichem der nur noch eine Stunde zu leben hat.«
»Jean Raynal hat hierauf, nachdem er Speise und Trank verweigert, einen Wagen bestiegen und ist mit der größten Ruhe und Ergebenheit die Stufen des Schaffotts hinaufgegangen.
»Zwei Minuten später war die menschliche Gerechtigkeit gesühnt.«
Erstes Kapitel.
Der Nicolas.
Acht Jahre sind vergangen.
Wir sind im October 1833, um neun Uhr Abends, und auf dem weiten indischen Ocean, dessen Wellen mit eintönigem Brausen von dem Archipel der Sundainseln bis zum Nebelkap ziehen, schwimmt ein Schiff in der Dunkelheit still und mühsam daher.
Es ist der Nicolas, welcher von der Insel Madagascar kommt, am Kap anlegen und dann nach Manila steuern will.
Auf dem Verdeck des Schiffes ist es einsam und still. Mit Ausnahme des wachthabenden Officiers, der, in seinen Regenmantel gehüllt und die Hände auf den Rücken gelegt, auf - und abgeht, und des Steuermanns an seinem Rade, ist kein lebendiges Wesen zu sehen.
Die Nacht ist nicht allein dunkel, sondern kalt; der Himmel und das Meer haben eine gleichmäßige, schiefergraue Farbe und ein feiner Regen peitscht die Takelage des Schiffs.
Man hört Nichts als das Krachen des Fahrzeugs, welches alle seine Kräfte anstrengt, um diese mächtige See zu überwinden, und sich, wie ein Roß Unter den Sporen des Reiters, auf seinem Kiele bäumt./P>
Wir steigen in das Zwischendeck hinab um zu sehen, was hier vorgeht. In einer großen Kajüte, welche während des Tages als Speisesaal und des Abends als Versammlungszimmer dient, und die jetzt von einer an der Decke hängenden und mit einem breiten Schirme bedeckten Lampe erleuchtet wird, sitzen vier Personen um einen großen leeren Tisch. Zwei von ihnen spielen Domino, es ist der Commandant Durantin und der Doktor Maréchal.
Der Dritte lies’t, den Kopf aus die rechte Hand und den Ellnbogen auf den Tisch gestützt, auf der sein Buch liegt.
Der Vierte thut eigentlich Nichts, aber er scheint in so tiefe Betrachtungen versunken zu sein, daß er leicht von Allen Vieren am Meisten beschäftigt sein könnte.
Der Commandant ist ein Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren, ein gewöhnlichen Schiffsanzuge, ein ächter Seemann mit freiem Blick. einer Adlernase und weißen Zähnen.
Der Doktor kann etwa zweiunddreißig Jahre alt sein; er hat ein offenes Gesicht, ein klares, sanftes Auge, wie das eines Mannes sein muß, dessen Herz, dessen Magen und dessen Kopf gesund ist.
Ost Lesende ist ein junger Mann, den man höchstens für fünfundzwanzig Jahre halten kann; sein Name ist Felician Pascal, sein Gesicht ist bleich, seine von hohen. schwarzen Brauen beschatteten Augen haben einen außerordentlich sanften Ausdruck und sein gern lächelnder Mund scheint ihm nur gegeben zu sein, um fromme Worte zu sprechen; obgleich er keine Priesterkleidung trägt, so hat er doch schon die Tonsur erhalten und besitzt die ganze evangelische Milde eines jungen Dieners des Herrn. Wenn seine Hand sich auf das Buch legt, um ein Blatt >umzuwenden, so kann man sich nicht enthalten, die weibliche Zartheit und die aristokratische Form dieser Hand zu bemerken. Er ist ganz schwarz gekleidet, von mittlerem Wuchse und mehr schwächlicher als kräftiger Gestalt. In dem Augenblicke-, wo wir seine Bekanntschaft machen, ist sein auf der Hand ruhendes Gesicht, das von langen, schwarzen Haaren eingerahrnt und von der über ihm hängenden Lampe zur Hälfte beleuchtet wird, das angenehmste und gewinnendste, welches man sehen kann; es spricht aus ihm die Ruhe der Seele, der lebendige Glaube, das reine Gewissen.
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