Und das Kind beobachtete immerzu. Es ging nachmittags wieder mit der Kinderfrau in die freie Luft. Doch auch die Kinderfrau konnte trotz der strengen Ermahnungen der Gnädigen und trotz des eigenen Willens dem Bann des Schlafes nicht widerstehen. Auch sie wurde von dieser in Oblomowka herrschenden allgemeinen Krankheit angesteckt. Zuerst beaufsichtigte sie eifrig das Kind, ließ es nicht weit von sich fort, brummte streng, wenn es herumtollte; dann, als sie die Symptome der nahenden Ansteckung fühlte, begann sie es zu bitten, nicht aus dem Tor hinauszugehen, nicht den Ziegenbock zu reizen, nicht auf den Taubenschlag oder die Galerie zu steigen. Sie selbst setzte sich irgendwo hin in den Schatten, auf die Stiege, die Schwelle des Kellers oder einfach auf das Gras, mit der Absicht, den Strumpf zu stricken und das Kind zu beaufsichtigen. Doch dann hielt sie es nur träge zurück und wackelte mit dem Kopf. Ach, der Wildfang wird, bevor man sich versieht, auf die Galerie klettern, dachte sie fast im Schlaf, oder auch, er geht ... zum Graben ... Hier senkte sich der Kopf der Alten auf die Knie, der Strumpf entglitt ihren Händen, sie verlor das Kind aus den Augen und schnarchte leise mit halbgeöffnetem Munde. Und es erwartete ungeduldig diesen Moment, mit dem sein selbständiges Leben begann. Es glaubte dann, in der ganzen Welt allein zu sein; es lief auf den Fußspitzen von der Kinderfrau fort, sah nach, wo ein jeder schlief; es blieb stehen und beobachtete aufmerksam, wie jemand erwachte, ausspuckte und im Schlafe etwas brummte. Dann stieg es mit bebendem Herzen auf die Galerie und lief auf den knarrenden Brettern rundherum, kletterte auf den Taubenschlag, versteckte sich in die Tiefe des Gartens, lauschte dem Summen eines Käfers und folgte mit den Augen weit seinem Fluge durch die Luft; hörte es im Grase zirpen, suchte und fand die Ruhestörer; es fing eine Libelle, riß ihr die Flügel ab und sah, was aus ihr wurde, oder steckte einen Strohhalm in sie hinein und beobachtete, wie sie mit diesem Anhängsel flog; es betrachtete voll Vergnügen, mit verhaltenem Atem, wie die Spinne das Blut der gefangenen Fliege aussaugte und wie das arme Opfer zwischen ihren Füßen zappelte und summte. Das Kind schloß damit, daß es sowohl das Opfer als auch die Peinigerin tötete. Dann kroch es in eine Rinne, grub darin herum und suchte sich Wurzeln, die es von der Rinde reinigte und voll Vergnügen aß, sie den Äpfeln und dem Eingesottenen der Mutter vorziehend. Es läuft auch aus dem Tor hinaus; es möchte gerne in den Birkenhain; dieser scheint ihm so nahe zu sein, daß es ihn in fünf Minuten erreichen könnte, wenn es nicht ringsherum über den Weg, sondern geradeaus über die Rinnen, die Hecken und die Gruben ginge; doch es fürchtet sich; man sagt, daß es dort Unholde, Räuber und wilde Tiere gibt. Es möchte auch gern zu dem Graben laufen; dieser ist nur fünfzig Klafter vom Garten entfernt; das Kind ist schon zum Rand hingelaufen, kneift die Augen zu und will wie in den Krater eines Vulkans hineinblicken ... Aber plötzlich erstehen vor ihm all die Erzählungen und Überlieferungen, die über diesen Graben umgehen. Entsetzen erfaßt es, es rennt halbtot und vor Angst zitternd zur Kinderfrau zurück und weckt sie auf. Sie schüttelte den Schlaf von sich, ordnete das Kopftuch, steckte ihre grauen Haarsträhnen mit dem Finger darunter, gab sich den Anschein, gar nicht geschlafen zu haben, blickte bald Iljuscha, bald die herrschaftlichen Fenster mißtrauisch an und begann die Stricknadeln des auf ihren Knien liegenden Strumpfes ineinanderzustecken.
Unterdessen begann die Hitze nach und nach abzunehmen, in der Natur belebte sich alles; die Sonne näherte sich schon dem Walde. Und allmählich wurde die Stille im Hause gestört. Irgendwo in einer Ecke knarrte eine Tür. Man hörte auf dem Hofe Schritte, auf dem Heuboden nieste jemand. Bald trug ein Mann, sich unter der Schwere beugend, einen ungeheuren Samowar eilig aus der Küche vorüber. Man begann sich zum Tee zu versammeln. Der eine hatte ein streifiges Gesicht und tränende Augen, der andere hatte vom Liegen auf den Wangen und Schläfen rote Flecken; ein dritter sprach nach dem Schlaf wie mit einer fremden Stimme. Das alles schnauft, ächzt, gähnt, kratzt sich den Kopf und streckt sich, nur mit Mühe zur Besinnung kommend. Das Mittagessen und der Schlaf haben einen unstillbaren Durst erzeugt. Der Durst sengt die Kehle; jeder trinkt bis zu zwölf Schalen Tee, doch auch das hilft nicht. Man seufzt und stöhnt; man nimmt zum Preiselbeer- und Birnenwasser und zum Kwaß Zuflucht. Manche helfen sich auch mit Medikamenten, um nur die Trockenheit in der Kehle zu beheben. Alle suchen Befreiung vom Durste wie von einer Strafe Gottes; alle rennen herum, alle sind ermattet wie eine Karawane von Reisenden in der arabischen Wüste, die nirgends eine Wasserquelle findet.
Das Kind ist auch hier, bei seiner Mama. Es betrachtet die es umgebenden, seltsamen Gesichter und lauscht ihrem schläfrigen, trägen Gespräche. Es findet es lustig, sie anzuschauen, ein jeder von ihnen gesprochene Unsinn interessiert es. Nach dem Tee beschäftigen sich alle mit irgend etwas. Der eine geht zum Fluß und schreitet langsam am Ufer entlang, indem er mit dem Fuße Steine ins Wasser wirft; ein zweiter setzt sich ans Fenster und fängt jede flüchtige Erscheinung mit den Augen auf. Wenn eine Katze über den Hof läuft oder eine Dohle vorbeifliegt, verfolgt der Beobachter die eine und die andere mit dem Blicke und mit seiner Nasenspitze, indem er den Kopf bald nach rechts, bald nach links wendet. So lieben manchmal Hunde ganze Tage lang am Fenster zu sitzen, indem sie den Kopf in die Sonne legen und jeden Vorübergehenden genau mustern. Die Mutter erfaßt Iljuschas Kopf, legt ihn auf ihre Knie und kämmt ihm langsam das Haar, indem sie dessen Weichheit bewundert und auch Nastassja Iwanowna und Stjepanida Tichonowna bewundern läßt, und spricht mit ihnen von Iljuschas Zukunft, wobei sie ihn zum Helden irgendeiner von ihr erdichteten, glänzenden Episode macht. Die Anwesenden versprechen ihm goldene Berge.
Doch es fing zu dunkeln an. In der Küche prasselte wieder das Feuer und ertönte wieder das häufige Klopfen der Messer. Das Nachtessen wurde zubereitet. Die Dienerschaft hatte sich am Haustor versammelt, man hörte dort lachen und Balalaika spielen. Man spielte Haschen. Und die Sonne verbarg sich schon hinter dem Wald; sie warf noch ein paar warme Strahlen zurück, welche den ganzen Wald in einem feurigen Streifen durchschnitten und die Wipfel der Fichten in helles Gold tauchten. Dann erloschen die Strahlen allmählich. Der letzte Strahl hing so lange, er bohrte sich wie eine feine Nadel in das Dickicht der Zweige; doch auch er erlosch. Die Gegenstände verloren ihre Formen. Alles verschwamm zuerst in eine graue und dann in eine dunkle Masse. Das Singen der Vögel wurde immer schwächer, bald verstummten sie ganz, außer einem einzigen eigensinnigen, der gleichsam allen zum Trotze inmitten der ringsherum herrschenden Stille in Zwischenräumen eintönig allein zirpte; doch dann ertönte sein Zirpen immer seltener, und endlich pfiff auch er zum letzten Male, schwach und tonlos, regte seine Flügel, indem er die Blätter um sich herum in Bewegung brachte ... und schlief ein. Alles verstummte. Nur die Grillen zirpten noch lauter um die Wette. Von der Erde stiegen weiße Dämpfe auf und breiteten sich über die Wiese und den Fluß aus. Auch der Fluß wurde ruhiger, nach einer Weile plätscherte darin etwas zum letzten Male auf, und er regte sich nicht mehr. Es roch nach Feuchtigkeit. Es wurde immer dunkler und dunkler.
Die Bäume gruppierten sich zu Ungeheuern zusammen; im Walde wurde es unheimlich. Dort knarrte plötzlich etwas, als wechselte eines von den Ungeheuern den Platz, und ein trockener Zweig schien unter seinem Fuße zu knistern. Am Himmel leuchtete gleich einem lebendigen Auge der erste Stern hell auf, und in den Fenstern des Hauses schimmerten Lichter.
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