„Ach Tante Vally… ich danke dir, das hast du sehr schön beschrieben.“
„Und wer sagt, dass dein Können auf das Hier und Jetzt beschränkt ist oder gar bleiben muss? Dass du nichts Neues dazu lernst? Dinge, die du eben heute noch nicht kannst.“
„Das schon, doch hier alleine im Landhaus? Ich habe keinen Fernseher, keine neuen Bücher mehr, kein Puzzle, Rätsel oder sonst etwas. Was soll ich denn hier den Winter über Neues lernen?“
„Musizieren!“, platzt es ganz spontan aus Valerie heraus. Diesmal lacht Justine laut und schüttelt den Kopf, während Valerie sie erwartungsvoll unter hoch gezogenen Augenbrauen anlächelt.
„Na, da bin ich ganz und gar nicht geeignet. Da kommt nichts Gutes bei raus“, bekräftigt Justine ihr Kopfschütteln nochmal.
„Muss denn immer gleich etwas dabei „raus kommen“? Ist es nicht manchmal der Prozess an sich, der uns nährt?“
Und Tante Valerie hat wieder recht. Ich beschwere mich über Langeweile und versinke im Selbstmitleid, dabei habe ich so vieles noch gar nicht ausprobiert.
„Schäme dich bitte nicht für das, was du nicht kannst… vor niemandem, auch wenn etwas nicht gelingt. Es geht da draußen allen Menschen gleich, glaube mir. Und jeder Schritt zu einer inneren Lebendigkeit, egal ob erfolgreich oder nicht, sollte schon für den neu beschrittenen Weg an sich belohnt werden. Ich wiederhole mich jetzt, doch erlaube dir, dich als einzigartig anzuerkennen. Traue dir zu, du selbst zu sein. Es ist für dich eine so große Chance, dich von den eigenen, einschränkenden Gedanken und Glaubenssätzen zu befreien. Lebe dich aus… in allen Bereichen, die dir nur einfallen. Tanze, spiele, singe, weine, lache so laut du magst“.
Valerie spricht ruhig, doch mit Nachdruck. Es steckt viel Energie in ihrer Rede. Für eine Weile schweigen beide. Justine schenkt in zwei Tassen den durchgezogenen Hagebuttentee ein.
„Geh doch mal bitte dort zu der alten Anrichte. Unten in der mittleren Schublade, da liegt etwas für dich.“
Justine zieht die Schublade vorsichtig heraus und sieht Blöcke, Stifte und ein altes Adressbuch.
„Was genau meinst du, Tante Vally?!“
„Schau genau hin.“
Justine bückt sich etwas tiefer und sieht weiter hinten in der Schublade eine weitere Einlage, die ihr bisher nie aufgefallen war. Sie zieht sie vorsichtig heraus und findet zwei stoffbezogene Etuis. „Bring sie bitte hier her an den Tisch. Das Buch auch.“
Justine trägt die Gegenstände zum Küchentisch.
„Das sind meine beiden Kartenspiele. Jeden Winter habe ich mich darauf gefreut, sie wieder hervorzuholen. Ich habe nie im Sommer gespielt, denn da gab es andere Aufgaben. Auch wollte ich mir die Freude am Spiel ganz bewusst für die kalten, einsamen Tage aufbewahren.“
„Was hast du denn damit alleine gespielt?“
„Ich habe immer Patiencen gelegt. Dazu brauchst du niemanden. Du wirst sehen, es werden auch so genug am Tisch sitzen und es hilft, die Gedanken zu sortieren. Patience heißt übersetzt so viel wie Geduld. Und Geduld ist sicher auch etwas, was den meisten Menschen fehlt. Mir früher auch.“
Justine öffnet beinahe andächtig das erste Etui. Der mintfarbene Seidenstoffbezug ist ein wenig abgegriffen, doch unter den Fingerspitzen ganz zart anzufassen. In goldenen Lettern ist das Wort Patience eingeprägt. Die Spielkarten sind ganz klein und mit einem ebenfalls goldenen Kantenschnitt verziert. Obenauf liegt die Pik Dame und das Herz Ass, um das sich handgemalte Maiglöckchen ranken, weitere filigrane Zeichnungen auf jeder einzelnen Spielkarte. Die Rückseite ist blau oder rot und zeigt ein Vogelpärchen.
„Ich zeige dir, wie man eine Patience legt und dann spielen wir eine Zank-Patience gemeinsam.“
„Sehr gerne.“
Tante Valerie macht zwei Stapel, steckt die Karten mit einem Daumenstrich ineinander und hat einen großen gemischten Stapel in der Hand. Den Vorgang wiederholt sie drei Mal in nur wenigen Sekunden.
„Wahnsinn, wie du die Karten mischen kannst“, staunt Justine, als würde sie einem Zauberer beim Spiel zusehen.
„Ich habe sicher sechzig Jahre lang Karten gespielt, da weiß man, wie es geht. Ich zeige es dir später, üben musst du dann alleine.“
„Abgemacht.“
„Ich habe mir bei der Zank-Patience immer vorgestellt, dass jede Karte für eine Stimme in meinem Kopf steht. Natürlich stehen die Symbole im französischen Blatt eigentlich für etwas anderes.
Die Farbe Kreuz stellt als dreiblättriges Kleeblatt den Bauernstand dar. Pik steht als Lanzenspitze für den Adel, Karo für das teilweise aufständige Bürgertum und Herz für Güte und Geistlichkeit. Doch das war mir egal. Ich habe mir meinen eigenen Reim darauf gemacht.
Für mich gibt es die Dame, die für Haltung und innere Größe steht. Es gibt den König, der in seiner hoheitlichen Würde unerschütterlich ist. Und es gibt den neugierigen Buben, der ein wahrer Draufgänger ist und alles einfach mal ausprobiert. Und hier, das Ass“. Tante Valerie streicht mit den Fingern über die Karte, ohne sie zu berühren. „Es ist immer etwas ganz Besonderes. Mein Trumpf auf der Hand, mein Alleinstellungsmerkmal. Gerne habe ich beim Ass meine hohe Feinfühligkeit und Empathie als eine wunderbare Gabe gesehen, auch wenn sie manchmal belastet. Ähnliches erkenne ich bei dir“. Sie blättert weiter Karte für Karte um.
„Und es gibt die Zahlen, die in der Wertigkeit ihrer Ziffern die vielen Nebenstimmen ausmachen. Die leisen Debattierer, die Zwischentöne, all diese kleineren Anteile in mir. So habe ich für mich immer gesagt, dass das Zeichen Kreuz die Schwarzmaler in meiner Runde ausmacht. Immer, wenn ich eine neue Idee hatte, wurden sie laut und wollten mir diese so gut es geht vermiesen. Stets in der Hoffnung, ich würde dann gar nicht erst damit beginnen. Alles lieber gleich bleiben zu lassen, ist kein guter Ratgeber. Doch zum Glück gibt es auch das Pik im Spiel. Es war in seiner Form so angelegt, dass es auf mich stets ausgleichend und beruhigend wirkte. Und es hatte viel Macht, ja, es war für mich sogar das mächtigste Zeichen in der Runde, der Streitschlichter und Schiedsrichter. Das Pik sorgte dafür, dass das Kreuz mir meine Vorhaben nicht grundsätzlich madig machte, bat jedoch um ruhigen Bedacht und neigt nicht zur Überstürzung.
Karo war mit seinen vier Kanten mein Symbol für den Zweifel. Karo zögerte zunächst einmal aus Unsicherheit und Selbstschutz, nicht jedoch aus Geringschätzung. Karo ist wohlwollend, doch ängstlich. Ist das Symbol Karo erst einmal überzeugt und stimmt dann auch Pik noch zu, hat das Kreuz schlechte Karten. Das Symbol Herz steht für Willenskraft, Entschlossenheit und Vision, für Optimismus und Selbstliebe. Das Herz Ass ist die Karte aller Karten und kann sich, wenn nötig, auch ganz alleine gegen alle anderen Karten durchsetzen.“
Justine lauscht Tante Valeries Ausführungen gespannt. Was sie hier erfährt, wird sie von nun an ihr Leben lang begleiten.
Valerie fährt fort: „Es lag stets an mir zu entscheiden, welches von diesen Symbolen meine Aufmerksamkeit und Kraft erhält. Und jedes Mal aufs Neue war ich froh, alle Karten im Spiel zu haben, denn ohne sie hätte ich meine geliebte Patience nicht legen können. Verstehst du, was ich dir sagen will?“
„Ja, ich verstehe. Diese inneren Stimmen gehören zu uns und sind alle wichtig. Ohne den Schwarzmaler oder den Zweifler würde uns ein Regulierungsinstrument fehlen, hätten wir nur Herzkarten im Stapel, würden wir uns blindlings verrennen und in unser Unglück stürzen. Ich habe daher gelernt, alle Spielkarten willkommen zu heißen. Denn wie schrieb Hermann Hesse schon nieder: Gerade das ist es ja, das Leben. Wenn es schön und glücklich ist, dann ist es ein Spiel. Natürlich kann man auch alles Mögliche andere aus ihm machen… eine Pflicht oder einen Krieg oder ein Gefängnis, aber es wird dadurch nicht hübscher.“
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