„Oh, nein, mach dir keine Sorgen, es ist gut so, wie es ist. Wir haben doch alle Zeit der Welt, um zueinander zu finden. Ich werde dich zu nichts drängen. Dazu bist du mir viel zu wichtig, ich würde dir niemals wehtun.“
„Danke. Und jetzt habe ich Hunger!“
Sie liefen die Treppe hinunter und setzten sich in der Küche an den liebevoll gedeckten Tisch. Lisa fühlte sich nun locker und entspannt, denn sie wusste, dass hier der Mann saß, der sie in eine neue Zeit führen würde. Nach dem Frühstück zeigte Sascha Lisa noch die andere Haushälfte mit dem Fotolabor und dem kleinen Laden. Wie im gesamten Haus war auch dort alles voller aussagekräftiger Fotos, aber hier dominierten Gesichter von Menschen die Ausstellung. Alte Menschen, Kinder, Zwillinge, Frauen und Männer sahen aus wie gute Bekannte des Fotografen, der es schaffte, jedes Gesicht in seiner ganzen Schönheit darzustellen.
„Ich sehe die Menschen, ich fotografiere sie nicht nur. Wenn die Welt um sie herum im Vergessen versinkt, dann drücke ich auf den Auslöser, das bringt diese faszinierende Natürlichkeit zutage. Es war wie bei dir. Weißt du, ich mag gar keine Models fotografieren, deren Schönheit ist nicht ehrlich. Schau hier, die alte Frau, die ihren Hund küsst, das ist Leben, nicht das gekünstelte Posieren.“
Lisa war vor dem Bild stehengeblieben. Die Frau musste um die Siebzig sein und hatte weiße Haare und eine Menge Falten, trotzdem war sie wunderschön, denn die Liebe zu dem kleinen Hund war deutlich in ihren Augen zu lesen. Lisa lobte Sascha für die Kunstwerke. Dann erschrak sie, denn auf einem Bild war sie selbst zu sehen, natürlich schön auf der kleinen Mauer zu Füßen des Schlosses Johannisberg. Ihre Augen leuchteten, sie schaute hinunter zum Rhein. Lisa erinnerte sich gar nicht daran, dass er sie in dem Moment fotografiert hatte und verstand nun, was er damit meinte: „… wenn die Welt um sie herum im Vergessen versinkt …“
Am Abend war Lisa wieder zuhause und sie telefonierten noch einmal, um sich ein letztes Mal für diesen Tag Gute Nacht zu sagen.
Pit Deicker war gerade wütend aus dem Büro gelaufen und hatte die Tür hinter sich zugeknallt. Michael schaute Bianca an, die erleichtert aufatmete. Pit hatte den Abschlussbericht der Spurensicherung gebracht und dann versucht, sich mit Bianca zu verabreden. Als sie keines seiner Angebote annahm, war er unhöflich geworden.
„Du weißt doch, dass ich dich liebe, ich kann nicht einfach aufgeben und ich werde es auch nicht. Du kannst doch gar nicht ohne mich leben, mein Schatz. Du brauchst mich! Du musst …“
Als er das vierte Mal sehr betont DU gesagt hatte, war Michael, den Pit einfach ignoriert hatte, zu Bianca gegangen, hatte sie auf die Wange geküsst und den Arm um sie gelegt. Bianca hatte den Wink verstanden und ihn verliebt angelächelt.
„Ach, so ist das“, sagte Pit mit einer steilen Zornesfalte auf der Stirn. „Du bescheißt mich mit dem hier. Glaub ja nicht, dass ich euch hier in eurem Liebesnest in Ruhe rummachen lasse. Du wirst schon noch kapieren, zu wem du gehörst.“
Dann drehte er sich abrupt um und lief hinaus. Michael hatte Bianca wieder losgelassen und war zu seinem Schreibtisch zurückgegangen, wo er sich nun setzte und die Akte der Spurensicherung aufschlug.
„Danke“, flüsterte Bianca sanft.
„Liebe Kollegin, das habe ich doch gerne getan, aber ich muss dir sagen, ich habe Angst um dich. Wirklich!“
„Das musst du nicht, aber wenn es dich beruhigt: Ich werde gut auf mich aufpassen. Er tut nur so böse, in seinem Herzen ist er ein weicher, verletzlicher Kerl.“
„Mann, der Typ hat dir gedroht. Und ich bin ja nicht immer da, um dich zu beschützen. Ich habe keine ruhige Minute mehr.“
„Ich gehe zweimal in der Woche zum Kampfsport und bin da sehr fit. Mach dir keine Gedanken, aber danke trotzdem für deine Unterstützung. Wenn etwas ist, dann komme ich zu dir.“
„Gut, dann lass uns arbeiten. Hier steht, dass Rizzo eine Waffe hatte, die er laut Hausmeister im Laster, der ihm tatsächlich selbst gehörte, aufbewahrt hatte. Ich habe keine gesehen. Du?“
„Nein, aber ich war nicht im Auto. Hast du ins Handschuhfach gesehen?“
„Da waren nur Schokoriegel und Hustenbonbons drin. Vielleicht hat Rizzo die Waffe mit ins Haus genommen. Ich lese mal weiter, hier ist eine Liste, was die Spusi drinnen gefunden hat. Hm … Geld, Schmuck im Tresor, Papiere … keine Waffe. Was soll das für eine Waffe sein? Wo steht denn das?“
Michael blätterte langsam weiter, bis er die Angaben fand. Es war nach Aussage des Hausmeisters eine moderne, russische Pistole, für die Rizzo natürlich keinen Waffenschein besaß. Mit ihr war eine Schachtel Munition verschwunden.
„Mist“, erklärte Michael, „diese Dinger gibt es wie Sand am Meer. Sicher hat Rizzo sie auf dem Schwarzmarkt gekauft. Was denkst du, wer die jetzt hat?“
„Entweder hat der Hausmeister die Gelegenheit genutzt und sie geklaut oder, was weitaus schlimmer wäre, der Täter läuft jetzt mit dieser Waffe herum. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, was er damit tun kann.“
Michael nickte, auch ihm war mulmig, wenn er daran dachte, dass jemand da draußen mit einer Tasche voller Patronen und einer tödlichen Waffe auf dem Weg zum nächsten gewalttätigen Kinderschänder war.
„Bianca, komm mit, wir müssen zu deiner Freundin Nele! Es gibt doch sicher eine Liste mit Leuten, die Kinder oder Frauen misshandelt haben und dann freigesprochen wurden.“
„Das nenne ich mal eine interessante Idee, vielleicht können wir einen weiteren Mord verhindern. Es sei denn …“
Michael blickte neugierig zu Bianca.
„Es sei denn?“
„Es sei denn, die beiden Morde habe gar nichts miteinander zu tun.“
„Das sagt ausgerechnet die Frau, die immer auf ihr Bauchgefühl hört? Glaubst du das wirklich?“
„Nein, natürlich nicht, aber wir müssen doch alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.“
Bianca stieß Michael an, der nachgedacht hatte und dann folgte er ihr zum Auto. Von unterwegs rief sie bei Nele an und erklärte, warum sie ihre Hilfe benötigten. Als sie ins Büro der Staatsanwältin traten, waren gerade die Akten gebracht worden, die die Fälle enthielten, bei denen der Täter entweder freigesprochen oder gar nicht erst angeklagt worden war.
„Ach, du Scheiße“, entfuhr es Michael, als er den Berg von Ordnern erblickte.
Nele Wolf-Kritzek nickte und bot den Kommissaren einen Platz an. Sie trug heute ein dunkelblaues Kostüm mit einer weißen Bluse, deren zwei obere Knöpfe offen waren. Sie sah unwiderstehlich gut aus. Michael konnte seinen Blick nicht von ihr lassen. Bianca und Nele hatten sich angesehen und nun grinste die Staatsanwältin ihn ungeniert und offen an.
„Herr Kommissar, muss ich Sie wegen unanständigen Starrens anklagen? Es wartet ein Berg Arbeit, im wahrsten Sinne des Wortes. Kaffee?“
Michael war tatsächlich errötet und nickte automatisch. Nele sagte ihrer Sekretärin, was sie wollten und dann nahm sich jeder einen Stapel Akten und setzte sich in eine andere Ecke des Zimmers. Bianca hatte den Sessel ans Fenster gerückt, Michael blieb auf der Couch und Nele setzte sich in ihren Schreibtischsessel. Die Sekretarin kam fünf Minuten später ins Zimmer, das Abstellen des Tabletts und das leise Klirren der Tassen war neben dem Rascheln des Papiers beim Umblättern das einzige Geräusch. Sie schlich wieder hinaus und ließ ihre Chefin und die Kommissare alleine.
Nach einer halben Stunde schaute Bianca auf, sie hatte feuchte Augen, als sie sagte: „Das sind die Abgründe der Menschheit. Mir läuft es schon eiskalt den Rücken hinunter, wenn ein Erwachsener sich an einem anderen Erwachsenen vergreift, aber das, was manche kleinen Kindern antun, die hilflos und zerbrechlich sind, das ist furchtbar. Es ist an Grausamkeit nicht zu überbieten. Warum tut ein Mensch so etwas?“
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