Als letzter Pilger unseres gesamten Schlafsaals gehe auch ich nach einem letzten Bierchen vor der Herberge gegen 22:00 Uhr ins Bett. Kinder und deren Eltern spielen noch auf dem Platz. Selbst die Allerkleinsten sind noch auf. Südländer halt. Ich bin raus. Reicht für heute.
Ich quälte mich heute 29 Kilometer entlang des Camino und man sollte immer Obacht geben: Thüringer sind überall.
Als Letzter ins Bett, als Erster wach. Mein Körper spielt völlig verrückt. Das für meine Verhältnisse frühe Schlafengehen bringt mich auch dementsprechend früh aus den Federn. Beziehungsweise aus den Gummibezügen der meisten Caminobetten. Fühlt sich lustig an, darin zu schlafen. Hauptsache die Bettwanzen hält es fern. Macht nichts, so bin ich wenigstens vollkommen ungestört bei der Morgentoilette. Selbst danach ist, außer den zwei putzigen Italienerinnen im Raum, noch keiner wach. Da ich nicht stören will, schnappe ich meine halb gepackten Sachen und gehe runter auf den Platz vor der Herberge. Ich hole mir erstmal einen Kaffee. Der einzige andere wache Gast ist der nervöse Ire. Auch er sitzt bereits draußen, raucht wie immer, zittert wie immer und blubbert mich mit irgendwas voll. Wenn ich nicht schon wüsste, dass das Englisch ist, würde ich auf eine Indianersprache tippen. Gesprochen von extrem besoffenen Indianern. Er heißt übrigens Dermot. Spielt keine Rolle. Für mich bleibt er der nervöse Ire.
Der Rest der Band findet sich gähnend langsam bei mir ein, während schon der zweite Kaffee meine Camino-Lebensgeister weckt. Egal wie schnell oder langsam wir einzelnen Wanderer tagsüber sind, wir versuchen zumindest immer gemeinsam aufzubrechen. Betonung auf versuchen. Los geht’s. Oben am Ortsausgang von Torres del Río steht noch immer das Zelt von Robert und Michelle. Nichts bewegt sich, die beiden werden wohl noch wohlig schlummern. Sollen sie.
Durch dorniges Gestrüpp geht es hinein in die ersten Weinberge des Tages. Die Region Rioja, mit dem angeblich besten Rotwein Spaniens und sogar der ganzen Welt, streckt ihre rebenbewachsenen Fühler schon nach uns aus. Bis auf Hanne, die heute sehr mit ihrer Sehne am rechten Fuß zu kämpfen hat, laufen wir dicht zusammen. Aber auch Alex und Inga schlagen sich mit Muskelkater oder anderen Zipperlein herum. Ich bin mir noch nicht ganz schlüssig, ob ich heute Schmerzen habe. Tja, ich habe ja gesagt, dass die letzten acht Kilometer gestern nicht nötig gewesen wären. Aber man lernt es eben manchmal nur auf die harte Tour.
Kurz laufe ich mit Jakob, dem dauerlaufenden Holländer. Der Mann ist echt fit. Seit Mitte Juni unterwegs und extrem gut in Form. Und der Jüngste ist er nicht mehr. Außerdem ist er einer der Wenigen, der einen noch kleineren Rucksack hat als ich. Nochmals meine größte Hochachtung für diesen willensstarken, fußgeplagten, aber immer fröhlichen Mann.
Auf der nächsten Anhöhe, auf der uns auch Hanne wieder einholt, sehen wir hinter den Weinbergen das erste Mal die Großstadt Logroño in der Ebene vor uns liegen. Weit vor uns liegen. Sehr weit vor uns liegen. Erneut ein Blick für die Ewigkeit. Ich hoffe nur, die Entfernung täuscht. Da wir schon gestern Abend Logroño als Ziel für den heutigen Tag ins Auge fassten, hoffe ich außerdem, dass die Zivilisation der Großstadt uns nicht so sehr ohrfeigt, wie dies in Pamplona der Fall war.
Durch die nächsten Weinberge geht es immer wieder mal hoch und mal runter. Es ist ein toller Weg. Meine Gefährten sind toll, das Wetter ist toll und meine Füße mögen mich heute sehr. So scheint es zumindest bisher. Die Blasen sind zwar noch nicht komplett verheilt, aber es scheint so ähnlich zu sein wie mit der Familie Targaryen in „Game of Thrones“ : Jeden Morgen werfen die Caminogötter eine Münze. Je nachdem auf welche Seite sie fällt, fallen meine Füße entweder dem Wahnsinn anheim oder beflügeln mich. Befüßeln mich. Heute werde ich bisher sehr schön befüßelt.
Mitten im Nirgendwo, umgeben von Weintrauben und Morgentau, steht ein kleiner Imbisswagen. Wie beim Bananenmann in den Pyrenäen. Die Ortsansässigen wissen eben, an welchen Punkten des Weges man Geld machen kann. Hier lassen wir uns nieder. Da Strom Mangelware zu sein scheint, erhoffe ich mir von meiner Frage nach Kaffee nicht besonders viel. Eigentlich sogar nichts. Ohne mir eine Antwort zu geben, verschwindet der Wagenbetreiber um die Ecke. Vielleicht ist es in dieser Region möglich, frischen Kaffee aus Weintrauben zu zapfen. Man weiß ja nie, wie bestimmte Dinge in anderen Ländern so gehandhabt werden. Weit gefehlt. Ein lautes Dröhnen setzt ein. Der freundliche, stille Herr schmeißt einen großen Notstromgenerator an, der im Kofferraum seines geparkten Autos steht. Natürlich. Hat man halt hier. Dann zündet er seine kleine Kaffeemaschine und los geht's. Man muss eben einfach fragen.
Während wir unseren Notstromkaffee schlürfen, kommt einmal mehr Däne Diederik an uns vorbei. Wie immer freut er sich uns zu sehen und erzählt von den neuesten Entwicklungen auf seinem Dating-Profil. Eine kleine Macke hat er ja schon. Aber eine schöne. Einen neuen Wanderpartner hat er auch gefunden. Es ist ein brasilianischer Maler. Er malt allerdings unterwegs nicht. Er will nur den Weg in sich aufsaugen und vielleicht später wiederkommen, um am Camino zu malen. Cooler, aber sonderbarer Typ. Dieses surreale Gespann zieht weiter, eine Pause wollen sie hier nicht machen. Mich beschleicht das Gefühl, dass der Brasilianer der Einzige war, der auf mein Bild auf Diederiks Dating-Seite reagiert hat. Gruselig.
Auch für uns geht es bald wieder weiter. Weiter durch die Weinberge und zur Abwechslung ein viel zu langes Stück auf Asphalt direkt an der Straße entlang. Kurz unterhalte ich mich mit einer US-Amerikanerin aus Kalifornien. Sie steckt sich gerade eine Wildblume ins Haar und bekommt von mir ein Kompliment dafür. Als sie mich genauer mustert, freut sie sich sehr über die Blumen an meinem Rucksack. Ein schöner Moment. Warum allerdings bisher jeder dachte, dass ich jeden Tag frische Blumen pflücke, um sie mir an den Rucksack zu packen, bleibt mir schleierhaft. Als ob ich jeden Tag an einem Gewächshaus für exotische Blumen vorbeikäme. Ich glaube, dass eine biologische Form dieser Kunstblumen in der Natur sowieso nicht vorkommt. Aber wer weiß. Die beblümte Amerikanerin fragt mich, ob ich den ganzen Weg gehe. Ich bejahe und sage, dass ich bis nach Finisterre gehe. Sie hat nicht die leiseste Ahnung, was das ist. Das ist eine amerikanische Eigenart, die ich bisher schon öfters feststellte. Sehr viele von ihnen gehen den Weg, weil sie den Film „The Way“ gesehen haben. Und darin kommt Finisterre eben nicht vor. Ich erkläre ihr kurz, dass es im wahrsten Sinne des Wortes das Ende der Welt ist. Zumindest der mittelalterlichen Welt. Sie scheint sehr interessiert und ihr Gesicht drückt aus: Klingt gut, das mach ich vielleicht auch. Die paar Tage mehr... „I don' t give a fuck!“, sagt sie. Das ist noch ein schöner Moment. Ach, diese niedlichen Unwissenden.
Vor uns taucht das Städtchen Viana auf. Inga hat mich kurz zuvor überholt. Hat wohl heute wieder ein schnelles Tier gefrühstückt. Wir freuen uns über die schattige Abwechslung und stürzen uns in die kleinen Gassen der Stadt. Direkt vor der Kirche finden wir, wieder zu viert vereint, einen schönen Platz für unsere Pause. Es ist immer wieder erstaunlich. Auch wenn Viana ein etwas größeres Städtchen ist, jeder noch so kleine Ort, jedes noch so minimale Dorf hat eine gewaltige Kirche. Auch wenn Rom der Ursprung des katholischen Christentums ist, erst das Spanien des Mittelalters hat es richtig groß herausgebracht. Und seine Sakralbauten bezeugen dies bis heute. Die Pause hier wird großzügig ausgedehnt. Wären die bisherigen Kilometer heute nicht so wenige, dann würde ich hierbleiben. Viana ist wirklich traumhaft schön.
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