Ich denke daran, was ich mit Adams Computer angestellt habe und frage mich, ob Floe und ich noch mehr gemeinsam haben, als die Farbe unserer Haare. Der Gedanke verpufft, als ich Hopes feuchte Augen sehe. Ihr fällt es schwer weiterzusprechen, mir mehr aus dieser Zeit zu berichten. Sie ist kurz vorm Losheulen.
»Syndra«, fährt sie leise und mit schwerer Stimme fort. »Sie war ein halbes Jahr jünger als ich. Sie hatte dunkelbraunes Haar, das ihr bis zum Po reichte. Sie war mit Abstand die Fitteste unter uns, auch wenn ich mit Meilenstiefeln aufholte und ihr in Beweglichkeit und Koordination den Rang streitig machte. Freija, wenn du gegen sie so lumpig gekämpft hättest wie vorhin, dann hätte sie dich in einer Sekunde in Stücke gerissen.«
Ich schlucke, frage mich, was aus Syndra geworden ist.
»Sie war einen Kopf größer als ich und sie hatte eine absolute Traumfigur. Die zwei männlichen Dorfbewohner schielten ihr ständig auf den Po und sie nannten sie die Königin der Nacht, denn Syndra konnte im Dunkeln leuchten.
Nicht so wie wir mit unseren Tattoos. Sie sah aus, als stünde ihre Haut in Flammen. Kalte blaue Flammen, die die Umgebung in ein atemberaubendes Spektakel verwandelten.«
Hope macht eine Pause, um sich zu sammeln. Dann fährt sie fort.
»Awokyn…« Pause. »Awokyn war nur ein paar Monate jünger als ich und sie war das letzte Mitglied in unserer vierköpfigen Girlband. Sie war sehr speziell. Sie hatte ein unscheinbares aber liebes Gesicht und ich fand, die grauen Augen, die wie Gewitterwolken aussahen, passten perfekt zu ihren grauen Haaren. Sie hatte tatsächlich die Haarfarbe einer Greisin.«
Hope hält kurz inne, um sich über ihr Gesicht zu fahren.
»Awokyns Fähigkeit war wohl die seltsamste, die ich bisher kennenlernen durfte. Sie war der lebende Beweis dafür, dass die Welt mehr ist als das, was wir sehen, fühlen, hören und so weiter. Und mehr ist als das, was ich damals verstand. Vielleicht auch noch heute. Sie wurde niemals krank. Hatte nie Schnupfen, eine Erkältung oder irgendetwas anderes. Sie war fast so alt wie ich, aber sie sah aus wie eine Elfjährige. Sie alterte nicht. Wurde keinen Tag älter. Nur ihre Haarfarbe sah alt aus. Ihr Körper und ihre Gedanken, ihr verspieltes Ich, alles an ihr ist stehengeblieben im Körper und dem Geist einer Elfjährigen. Aber das war noch nicht alles. Awokyn brachte es fertig, sich in der vierten Dimension zu bewegen. Also der Raum hat drei Dimensionen, soweit kam ich ja noch mit. Und die vierte ist die Zeit. Awokyn marschierte durch die Zeit. Zwar bekam sie das nur für ein paar Augenblicke hin. Wäre das anders, dann hätte ich sie sofort gebeten, in die Vergangenheit zu reisen und die Welt zu verändern.
Aber das ging natürlich nicht. Trotzdem waren wir immer wieder baff, wenn sie uns neckte. In dem einen Moment lief sie noch hinter uns her und im nächsten erwartete sie uns schon am Treffpunkt. Sie sprang einfach so ein paar Sekunden in die Zukunft. Oder aus der Zukunft in die Vergangenheit? So richtig geblickt habe ich das nie. Ist eine komplizierte Sache mit den Zeitreisen.«
»Das ist wie bei mir, wenn ich in die Astralwelt übertrete«, stelle ich fest. »Dort vergeht die Zeit viel langsamer und wenn ich zurückkomme, dann hat sich die Erde dreimal weiter um die eigene Achse gedreht.«
»Ja, vielleicht ist das bei Awokyn genauso gewesen. Aber sie konnte auch in die Vergangenheit reisen.«
»Wie jetzt? Wie habt ihr das denn bemerkt?«
»Nun, sie hat uns mit ihrer Zeichensprache verraten, was in den nächsten Sekunden passieren würde, das war der Beweis, dass sie in der Zukunft war. Ähm? Ich merke schon, das hört sich verrückt an. Sie konnte es einfach und ich fand das unglaublich.«
»Das ist ja wie bei deiner Mutter.«
»Nein, nein, Awokyn hatte keine Visionen. Sonst hätte sie gesehen, dass ich am Mittsommertag versagen würde. Dass ich meine Aufgabe, den Schild aufrecht zu erhalten, vernachlässigen würde und es das Schicksal so wollte, dass ich nicht im Dorf war, als eine Armee von Vollstreckern uns entdeckte.«
Hope vergräbt jetzt ihr Gesicht in ihren Händen und ich höre sie bitterlich schluchzen. Unbeholfen lege ich meinen Arm um sie, nehme sie fest in den Arm, als ich bemerke, dass sie mich nicht abweist.
»Ich hätte sie alle retten können.«
»Hope, es ist okay. Du brauchst nicht weiterzuerzählen.«
»Doch, das will ich aber.«
Hope wischt sich zornig die Tränen aus ihren Augen. Sie wirkt aufgebracht. Ist auf sich selbst wütend.
»Es war Storm. Er und ich. Wir haben uns heimlich getroffen und von dem Dorf weggeschlichen.«
Ihr Blick geht ins Leere.
»Wir haben sie allein gelassen, um uns heimlich zu lieben.«
»Hope, du brauchst wirklich nicht…«
»Wir waren beide so sehr ineinander verliebt. Vielleicht waren wir auch nur hungrig auf unsere Körper und auf den Austausch von Zärtlichkeiten. Ich hörte die Schüsse und die Explosionen als erste, aber Storm war es, der zurück ins Dorf rannte, während ich wie angewurzelt im Wald zurückblieb. Freija, ich hätte etwas tun müssen, aber ich konnte nicht. Ich war wie gelähmt. Erst als alles wieder still geworden war, bin ich wie eine Gestörte zurückgerannt. Das Dorf lag in Schutt und Asche. Alle Symbionten waren verschwunden. Sie haben alle mitgenommen, nur Thunders und Storms Leichen haben sie zurückgelassen. Ich habe für eine Stunde keinen Schild auf das Dorf gelegt, weil ich einen Jungen küssen wollte, mit ihm geschlafen habe und deswegen, meinetwegen, sind alle gestorben.«
Hope kann sich nicht mehr halten und die Traurigkeit und der Zorn schütteln ihren Körper durch. Sie bekommt kein Wort mehr heraus, aber das ist auch nicht nötig. Ich fühle, dass es das erste Mal war, dass sie ihre Geschichte jemandem erzählt hat.
Ich kann im Moment nur eins für sie tun und das ist, sie festzuhalten. Sie gibt sich die Schuld am Tod ihrer Freunde. Ich kann vielleicht besser als jeder andere nachvollziehen, wie sich das anfühlen muss. Ich habe das gleiche durchlebt.
Wir sitzen schweigend da und es vergeht eine Ewigkeit. Und dann noch eine.
Dann, irgendwann versiegen Hopes Tränen und die Vergangenheit ruht und die Gegenwart kehrt zurück und mit ihr Hopes Lächeln.
»Danke«, sagt sie.
»Hope, versprich mir eins.«
»Ja?«
»Lass mich niemals im Stich!« Hope sieht mich überrascht an, aber ich weiß, dass ich genau die richtigen Worte gewählt habe. Das ist es, was sie braucht. Sie ist eine Kämpfernatur und wenn etwas ihre Seele heilen kann, dann dieses Versprechen.
»Ich verspreche es dir, ganz, ganz fest«, sagt sie tapfer und presst die Lippen spitz zusammen. Dann schweigen wir uns wieder an. Und ich könnte mir gerade nichts Schöneres vorstellen.
»Einen Penny für deine Gedanken?«, fragt sie irgendwann später. Wie viel später, weiß ich nicht. Vielleicht waren es nur Sekunden, eventuell waren es aber auch Stunden, die wir gerade nebeneinander gesessen sind.
»Was sagst du da? Einen Penny?«
»Ist nur eine Redensart. Storm hat das immer gesagt. Es soll heißen, dass ich dafür bezahlen würde, um zu erfahren, an was du gerade denkst.«
»Mit Geld?«, frage ich und freue mich darüber, wie unbeschwert sie eben Storms Namen ausgesprochen hat.
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