Was haben sie und ich schon zusammen durchgemacht, überlege ich jetzt? Das könnte wirklich schon genügend Aufregung für ein ganzes Leben sein und ich zerbreche mir über so etwas Belangloses wie Klamotten den Kopf.
»Komm schon, reg dich nicht auf. Vielleicht kann ich dir sogar dabei helfen. Du musst zum Beispiel unbedingt reinschreiben, dass die Hauptdarstellerin in deinem Buch nicht schlafen will, weil sie Angst davor hat, für ganze Wochen einfach so von der Bildfläche zu verschwinden, um dann urplötzlich wieder wie aus dem Nichts aufzutauchen. Dann schreibst du noch auf, dass sie diese Fähigkeit mehr und mehr in den Griff bekommt und unbedingt weiter üben muss. Und dann auch, dass sich ihre Freunde in ihrer Abwesenheit trotzdem unendlich viele Sorgen machen und sich fürchterlich erschrecken, wenn sie plötzlich wieder aus der Astralwelt erscheint und einfach so Hallo sagt.«
»Das sagt gerade die Richtige. Wie aus dem Nichts aufzutauchen und einen halb zu Tode zu erschrecken, hast du definitiv besser drauf als ich«, meine ich trocken und stupse meinen Ellenbogen liebevoll in ihre Seite.
»Autsch«, quietscht Hope übertrieben. »Na warte, du kleines, verzogenes Biest, das zahl ich dir heim«, sagt sie und boxt mir auf die Schulter.
Was dann folgt, gehört zu unserem alltäglichen Zeitvertreib. Jemand könnte sagen, wir wären irre. Vielleicht stimmt das ja auch, aber ich liebe es über alles, mit Hope zu kämpfen. Es gibt nichts Vergleichbares, das mich körperlich mehr herausfordert, wie es mit dieser jungen Frau aufzunehmen. Ihre Bewegungen sind unwahrscheinlich schnell und ihre Attacken variantenreich, listig, nicht vorhersehbar.
Wie Bestien aufeinander loszugehen, hilft uns fit zu bleiben und für den Ernstfall zu trainieren. Niemand sollte uns in einem solchen Moment zu nahe kommen. Das Risiko sich, bei dem Versuch uns auszuweichen, tödlich zu verletzen, ist zu groß.
Hope rennt in Blitzgeschwindigkeit um den nächststehenden Baum. Kurz verschwindet ihre schlanke Gestalt hinter dem mächtigen Stamm, dann sehe ich sie wieder. Sie hüpft hoch, nimmt Schwung an einem der unteren Äste und springt mich an, als wäre sie ein verzaubertes Mischwesen, zusammengesetzt aus der Gelenkigkeit eines Gorillas, gepaart mit der Schnelligkeit eines Panthers.
Ich rolle mich unter ihrem heranfliegenden Körper weg, werfe meine Arme nach oben und verpasse ihr einen Hieb, der sie am Oberschenkel trifft. Sie schlägt im nahen Unterholz auf, Äste knicken ein, welke Blätter fallen von den Bäumen. Sofort ist sie wieder auf den Füßen und rollt wie eine Lawine mit einem Wirbel aus Flickflacks auf mich zu. Ihre Faust rast auf mich zu, stoppt wenige Zentimeter vor meiner Brust, gefangen in meiner Hand. Ich projiziere einen Abwehrschild, der sie zurückweichen lässt, aber Hope schneidet ihn mit einer Technik, die ich noch nie zuvor bei ihr gesehen habe, entzwei.
»Was zum Teufel war das?«, frage ich verblüfft und trete einen Schritt zurück. Sie blickt auf ihre Hände. »Süße, du musst noch so viel lernen«, lacht sie, dann ist sie bei mir, stößt mich mit solcher Kraft von sich, dass ich rückwärts taumle und beinahe zu Boden stürze. Der Schild, der mich sogar vor Gewehrkugeln schützen konnte, ist plötzlich völlig nutzlos.
Dann schießt sie wieder auf mich zu. Ich erwarte sie mit erhobenen Fäusten, will sie irgendwie abwehren, doch kurz bevor sie auf mich knallt, schert sie unerwartet zur Seite aus, beschreibt einen Halbkreis mit ihrem linken Bein, über das ich es gerade noch schaffe hinwegzuspringen. Sie duckt sich flink unter meinem nächsten Schlag durch, bekommt mein Handgelenk zu fassen, dreht sich und schleudert mich über ihre Schulter. Ich lande dumpf auf dem Waldboden, mein Kreuz beklagt sich, als ich zappelnd wie ein Käfer auf dem Rücken liegen bleibe. Dann ist sie schon wieder über mir, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, rammt sie mir ihr Knie auf die Brust und legt ihre Finger um meine Kehle.
»Gewonnen«, flüstert sie und pustet sich die wild vom Kopf stehenden Haare aus dem Gesicht. Ihre dunkel umrandeten Augen glühen aufreizend. Ihre Tattoos versprühen Feuer, funkeln böse. Wir schauen uns tief in die Augen. Eine, zwei, drei Sekunden lang.
Dann prusten wir gleichzeitig los. Ausgelassen. Glücklich lachen wir, bis uns Krämpfe überwältigen. Kugeln uns über den Waldboden wie Hundewelpen. Später, als sich unsere Lachmuskeln wieder halbwegs beruhigt haben, kriechen wir erschöpft zurück zur Anhöhe. Sie schlüpft aus ihren Stiefeln, ich aus meinen Turnschuhen. Dann strecken wir unsere Beine im trockenen Gras nebeneinander aus und lassen nur noch unsere Fußzehen miteinander ringen. Die Sonne strahlt in unsere Gesichter und wärmt uns. Ich empfinde ein wundervolles Gefühl. Ich bin glücklich.
»Wie hast du meinen Schild durchbrechen können?«, frage ich, während ich die Übungseinheit in meinem Kopf analysiere.
»Kleine, du sprichst hier mit der Erfinderin dieser Fähigkeit. Wenn du verstehst, wie die Energie des Schildes funktioniert, dann kannst du sie auch überwinden, neutralisieren oder übernehmen.«
»Mhm«, vernehme ich einen Laut, der aus meiner Kehle kommt. »Ich muss wohl noch viel lernen.«
»Yip, so ist es.«
»Hast du dir das alles selbst beigebracht?«
Plötzlich wird Hope ganz still. Ich habe eine Grenze überschritten, ohne mir darüber im Klaren zu sein. Ich bohre nicht nach. Wenn sie bereit ist, mir mehr aus ihrer Vergangenheit zu erzählen, dann wird sie es schon tun.
»Du hast dir einen wirklich inspirativen Platz zum Schreiben ausgesucht«, knüpft Hope nahtlos an das Thema vor unserem Training an. »Weißt du, wie man dieses Naturphänomen nennt?«, fährt sie fort und macht eine übertrieben weite Geste mit ihren Armen, die die ganze Aussicht einfasst. Ich schüttle zweimal meinen Kopf und lasse meinen Blick über die tausend Laubbäume schweifen, die man von der kleinen Anhöhe aus überblicken kann. Die Natur ist atemberaubend schön.
Die Welt hat sich binnen weniger Tage in ein zauberhaftes Gemälde verwandelt. Die Blätter leuchten sanft rot, gelb, orange und der Himmel strahlt seit Tagen unendlich tief und azurblau, so als säßen wir in einem lichtdurchfluteten Tintenglas. Ich habe noch nie einen so schönen Himmel gesehen.
»Vielleicht wurde es nach einem Künstler oder dem Schöpfer höchst persönlich benannt«, spekuliere ich.
Hope blickt sinnend hinaus. »Eine alte Freundin nannte diese Jahreszeit den Indian Summer«, sagt Hope sanft und malt mit ihren Fingern faszinierende, unsichtbare Symbole in die Luft. Hopes eigene, für sie typische, Zeichensprache.
Ich überlege, wer diese Freundin wohl war und ob sie noch lebt, wo sie sich jetzt gerade aufhält, ob Hope jetzt doch etwas preisgeben möchte, während mich das Spiel der Farben in seinen Bann zieht. »Der Sommer der Indianer?«
Hope ist in Gedanken, beginnt, sich ihr langes, schwarzes Haar mit den Fingern durchzukämmen. Die Blätter und Ästchen, die sich darin verfangen haben, zu entfernen. Ich übernehme diese Aufgabe für sie, während ich sie bitte, mir mehr zu erzählen.
»Hier im Norden lebten einst Indianer. Irokesen nannte man ihren Stamm. Meine Freundin war ein Nachkomme dieses naturverbundenen Völkchens. Sie hat mir erzählt, dass ihre Urgroßväter große Friedensstifter waren. Ein legendärer Häuptling, sein Name war unaussprechlich, klang für mich, wie wenn sich jemand einen Stock in den Hals steckt und dann die Worte Luft und Wasser sagen will.« Ich muss glucksen. »Nun, also der Häuptling hat den Zusammenschluss des Völkerbundes aller Irokesen bewirkt. Ihrer Geschichte zufolge, lebten sie alle in einem Haus, das siebenhundert Meter lang war. Die Leute vom Großen Hügel bewachten das westliche Tor und die Leute vom Feuerstein das östliche. Niemals waren die Eingänge unbewacht«, erzählt Hope mit ihrer Stimme und ihren Fingern und Gesten.
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