Chiara seufzt und ruft ihren Bruder an. »Mailbox.« Sie bläst sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wo ist er nur, ich weiß nicht mal seine Zimmernummer.«
Der Typ vom Cocktailabend kreuzt ihren Weg und starrt sie an.
Sie nickt ihm zu. »Wie geht es Ihnen?«
Er verschränkt die Arme vor der Brust. »Sie meinen im Bezug auf den Spinnenbiss?«
»Nicht nur das.«
»Ausgezeichnet, ich muss los.« Er marschiert an ihr vorbei und würdigt sie keines Blickes.
Chiara zieht die Stirn kraus. »Was für ein arroganter Kerl.«
»Sind Sie beim Surfunterricht dabei?«, fragt Michael, der mittlerweile neben ihr steht und ein Surfbrett unter‘m Arm trägt.
»Ja leider, gehen Sie ebenfalls hin?«
»Klar, das lass ich mir nicht entgehen, bei dem Wellengang.«
»Mein Bruder geht im Sommer regelmäßig Segeln.«
»Klasse, das wollt ich hier auch lernen.«
»Sie sind an Wassersport interessiert?«
Der Typ starrt Richtung Meer. »Es gibt nichts Besseres, als Surfen.«
Sie betrachtet die feuerrote Kappe, die er auf dem Kopf trägt.
Er setzt sie ab und hält sie ihr unter die Nase. »Gefällt sie Ihnen?«
»Sie ist schick, wo haben sie die her?«
»Vom Diskonter.«
»Ich kaufe auch immer im Billigladen, da ich nicht grade wohlhabend bin.«
»Das ist unfair, mein bester Freund Oliver ist reich und braucht das nicht.«
»Der hat es gut.«
»Wie man‘ s nimmt, er ist ein Einzelkind und wurde von allen Leuten verwöhnt.«
»Ich musste die Spielsachen mit Stefan und meinen kleinen Schwestern teilen.«
»Ach Sie haben mehr Geschwister?«
»Sie heißen Nicole und Adriana und sind Zwillinge.«
»Die beiden haben es gut, sie sind jederzeit zu zweit.«
»Das glaubt man, doch sie sind dauernd getrennt unterwegs.«
»Schade, wenn ich einen Zwillingsbruder hätte, würde ich alles mit ihm teilen.« Michael zwinkert ihr zu. »Wir sehen uns beim Unterricht.« Er setzt sich in Bewegung und geht zum Hotelgebäude.
Chiara öffnet die Zimmertür und erblickt Vanessa, die ihr lächelnd ein Surfbrett reicht.
»Bist du bereit?«, fragt die Freundin »Die Surfstunde beginnt gleich.«
»Moment, ich muss mich umziehen.« Sie geht zum Schrank, holt einen Bikini heraus und schlendert mit dem Teil ins Badezimmer.
»Beeil dich, sonst kommen wir zu spät«, hört sie Vanessa von nebenan rufen.
Die Zwei verlassen den Raum und gehen aus dem Hotel.
Sie marschieren den Kiesweg entlang zum Strand. Dort haben sich bereits viele Hotelgäste mit ihren Surfbrettern versammelt.
Die beiden Freundinnen stellen sich zu den Leuten und warten auf den Surflehrer. Chiara seufzt und steigt von einem Bein auf das Andere.
Ein Mann in graugelb gestreifter Badehose und blauer Umhängetasche kommt auf sie zu. »Tag, ich bin Tim, ihr Trainer. Wir beginnen gleich, nur zuvor will ich die Anwesenheitsliste durchgehen.« Er holt ein Blatt Papier aus der Tasche und ruft die Namen der Reihe nach auf.
Chiara entdeckt Michael und lächelt ihn erfreut an.
Er grinst zurück, geht auf sie zu und stellt sich neben sie.
Vanessa beobachtet die beiden und legt ihr Surfbrett in den Sand.
Tim deutet auf den Ozean. »Nehmen Sie ihre Bretter in die Hand und folgen Sie mir bitte.«
Die Gäste gehen ihm nach und bleiben vor dem Gewässer stehen.
Chiara schaut auf das Meer und wendet sich an den Trainer. »Warum hat vor ein paar Tagen jemand Haialarm gerufen, war das ein Scherz?«
Der Mann lacht lauthals los. »Nein, das war eine Übung für den Ernstfall, ein Service von unserem Hotel.«
Sie errötet leicht und senkt verlegen den Blick.
Michael sieht Tim verblüfft an. »Da haben wir endlich die Antwort.«
Der Trainer lässt sich nicht beirren und wendet sich an Chiara. »Sie fangen gleich mit der ersten Übung an. Gehen Sie ins Wasser, legen Sie sich auf das Surfbrett und paddeln mit den Händen.
»Ich?« Sie kaut auf ihren Nägeln und sieht den Mann beunruhigt an.
»Klar, worauf warten Sie noch?«
Chiara schlendert zögerlich mit dem Brett zum Meer, wirft einen Blick über ihre Schulter und schaut zu Tim.
Er deutet auf den Ozean und verschränkt die Arme vor der Brust.
Sie watet ins kühle Nass, platziert ihr Surfbrett im Wasser und legt sich bäuchlings darauf.
Die erste Welle schwappt ihr Salzwasser in die Augen und sie springt ruckartig auf. »Hilfe!« Sie schaut zu den Leuten und bemerkt, dass sie zu lachen beginnen.
Der Trainer schüttelt den Kopf und fasst sich an die Stirn.
Chiara rennt zurück zu ihm und drückt ihm das Brett in die Hand. »Das ist nichts für mich.«
Michael schaut sie besorgt an und kommt auf sie zu. »Alles in Ordnung mit dir?« Er ist mittlerweile zum Du übergegangen.
»Klar, ich muss gehen.« Sie grinst ihn verlegen an und verlässt mit schnellen Schritten den Strand.
Chiara marschiert in ihr Zimmer, wirft sich auf das Bett und grübelt vor sich hin.
Ihr Handy auf dem Schreibtisch gegenüber beginnt lautstark zu klingeln und holt sie aus den Gedanken.
Erschrocken springt sie auf und geht ran. »Hallo?«
»Tag, sind Sie Chiara Weiß?«, meldet sich eine Männerstimme in der anderen Leitung.
»Ja, wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin Peter Adler, Beamter. Bedauerlicherweise muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr leiblicher Vater, Eduard Monitz gestern in seinem Haus verstorben ist. Sie sind am Samstag um 18 Uhr beim Notar in Zürich bestellt.«
Chiara wird bleich im Gesicht und klammert sich an die Tischkante. »Mein was?«
»Entschuldigen Sie, aber ich hab jetzt keine Zeit für lange Erklärungen. Wiederhören.«
Sie legt ihr Handy zur Seite, sinkt auf das Bett und starrt an die gegenüberliegende Wand.
Vanessa kommt ins Zimmer und stellt eine blaue Stofftasche am Holzboden ab. »Ist was passiert, du bist so blass im Gesicht?«
Chiara reagiert nicht und sitzt weiterhin regungslos da. Ihr Atem beschleunigt sich, sie verdreht die Augen und rutscht vom Bett.
Kurz darauf erwacht sie und sieht Vanessa neben ihr knien.
»Du hast mir einen gewaltigen Schrecken eingejagt, so hab ich dich noch nie erlebt«, sagt ihre Freundin und zerrt sie an den Armen hoch.
Chiara räuspert sich und atmet tief durch. »Mein leiblicher Vater Eduard Monitz ist gestorben und ich muss zum Notar nach Zürich«, wiederholt sie monoton die Worte des Beamten.
»Was ... wer ... bist du adoptiert worden?«
»Nein, ich ... anscheinend bin ich das.«
»Das wurde dir verschwiegen, das ist echt gemein von Renate und Matthias.«
»Was soll ich jetzt tun, ich steh total neben mir.«
»Ich schlage vor, du gehst hin, das schaffst du, keine Sorge.«
»Ich muss die Sachen packen und in die Schweiz zurückfliegen.«
»Ich komm mit«, sagt Vanessa. »In dem Zustand lass ich dich nicht allein fliegen.«
Chiara zieht ihren Koffer unter dem Bett hervor, lässt ihn liegen und marschiert wie ferngesteuert zum Schrank.
Sie wühlt darin, schnappt ihr Nachthemd, schlüpft hinein und legt sich auf ihre Matratze.
Vanessa starrt sie an und schlurft auf das Gepäckstück zu. Sie öffnet es und beginnt, Klamotten einzupacken. »Du gehst mitten am Tag schlafen? Weißt du was, ich buch uns einen Heimflug, wenn möglich noch für heute Abend.« Ihre Freundin zückt das Handy, tippt darauf herum und hält es sich ans Ohr.
Chiara nickt und dreht sich zur anderen Seite des Bettes. Ihr Kopf fühlt sich an wie Watte.
»Ist es machbar, dass wir den nächsten Flug Richtung Zürich bekommen?«, fragt Vanessa.
Ein paar Sekunden herrscht Stille im Raum.
Das weitere Gespräch bekommt Chiara nur noch zur Hälfte mit.
»Die Buchung war erfolgreich«, hört sie wenig später die Stimme ihrer Freundin hinter ihr. »In drei Stunden geht der Flieger.«
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