Levi hat all das herausgefunden. Moderne Wissenschaft und antike Überlieferungen zusammengeführt. Alchemie, die Einflussnahme auf das Leben und seine Formen geht weit über die Erkenntnisse der Genforschung hinaus. Einflussnahme auf die Lebensspanne? Übernatürliche Fähigkeiten? Ein Menschheitstraum.
Leider sieht er keine Möglichkeit einzugreifen. Levi rauft sich die Haare aufgrund seiner Ohnmacht, als es an der Tür klingelt. Eine steinalte Frau begrüßt ihn. Er hat sie noch nie zuvor gesehen. Kann nicht ahnen, mit welcher Fähigkeit sie seit Jahrzehnten Erinnerungen ausradiert und falls erforderlich durch Neue ersetzt. Es wird für Levi wie eine Befreiung sein. Alle Verbindungen zu TREECSS werden aufgelöst.
Alle. Ausnahmslos.
Stunden später findet er sich auf der Autobahn wieder. Er hat keine Ahnung, wie er hier her gekommen ist. Warum er auf dem Weg nach München ist. Weiß nichts mehr über seine Freunde und Kollegen, hat keine Erinnerung an seine Familie. Aeia, Naomi und Joshua, der auf dem Hauptfriedhof in Freiburg liegt. Er hat alles vergessen, einfach alles, was er über die Programme und die Gene wusste. Levi fährt weiter. Etwas zieht ihn nach München und weg von Freiburg. Etwas, das er sich nicht erklären kann.
Hauptkommissar Volker Tygs holt eine Plastiktüte aus seiner Umhängetasche und stülpt sie sich über die Finger wie einen Handschuh. Damit fasst er den Schlagring an und betrachtet ihn genauer. Keine Frage, das ist die Tatwaffe. Die drei Opfer liegen, mit schwersten Kopfverletzungen, um ihr Leben ringend, im Freiburger Uniklinikum. Seine Stirn legt sich in Falten, als er sich den Tatvorgang auszumalen versucht. Er wird einfach nicht schlau aus den Fakten. Auf den ersten Blick sieht alles nach einem relativ einfachen Fall aus. Ein Streit unter zwei radikalen Gruppen, der fast tödlich endete.
Als Tygs vorhin die Tiefgarage in der Freiburger Innenstadt betreten hat, ist Zorn in ihm aufgestiegen, den er bis jetzt nicht abgelegt hat. Die ATON mischt sich in den Fall ein, als wäre es ein Akt des Terrors gewesen und keine Schlägerei, von der Sorte, die in der letzten Zeit immer häufiger vorkommen. Diese Antiterrororganisation mischt sich in die Ermittlungen ein und das passt Tygs überhaupt nicht in den Kram.
»Wir haben eine Idee, wer das getan hat«, sagt der hochgewachsene Mann der ATON, der Tygs mehr an einen Soldaten oder Söldner erinnert, als einen Vertreter der Rechte, terrorisierter Bürger.
»Haben Sie einen Namen?«
»Nein, aber eine Adresse. Ein Institut, das sich selbst TREECSS nennt. Ganz in der Nähe von Freiburg.«
»Und warum meinen Sie das?«
»Die Aufzeichnungen der Überwachungskameras. Es wird jeder aufgezeichnet, der hineingeht oder die Tiefgarage verlässt.« Der ATON Mann spult zu den entscheidenden Szenen, zeigt Tygs, wie die drei zwielichtigen Opfer, die Tiefgarage betreten und ihnen kurz darauf ein Mädchen folgt. »Keine zehn Minuten später hat sie den Tatort fluchtartig wieder verlassen. Zum Glück waren zwei unserer Männer ganz in der Nähe und sind ihrem Instinkt gefolgt und in die Tiefgarage gegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Dort haben sie die drei Opfer gefunden.«
»Es war ein Mädchen?«, fragt Tygs ungläubig.
»Nein, nicht nur ein Mädchen. Sondern eine Terroristin«, sagt der Mann der ATON.
Aeia,
die Jahre seit unserer Trennung, fühlen sich an wie hundert Winter, ich fühle mich um hundert Jahre gealtert - ohne Dich - hundert trostlose Jahre. Ich kann mir noch immer kein Leben ohne Dich und ohne unsere Tochter vorstellen. Wie soll ich den Alltag bestreiten, wie soll ich überleben, ohne zu wissen, wie es Dir geht? Mich quälen die unbeantworteten Briefe, das Schweigen, das Dich umgibt, raubt mir den Verstand und die Erinnerungen quälen mich, Dein Gesicht, Deine Stimme, Dein Herzschlag, den ich unter meiner Hand spürte und so sehr vermisse.
Könnte ich die Ereignisse, die unsere Liebe in Schatten versinken ließen, verändern, ich würde keine Sekunde zögern und es tun. Doch ich weiß das ist unmöglich. Niemand kann das, was wir verloren haben, wieder lebendig machen.
Aeia, vermisst Du mich nicht auch? Ich hoffe, eines Tages findest Du zu mir zurück.
Ich vermisse Dich, ich vermisse meine Frau, meine Geliebte, meine Freundin und einzige Liebe.
Ich weiß, Du wirst auch auf diesen Brief nicht antworten und ich habe Deine Entscheidung zu akzeptieren, aber haben wir das wirklich verdient? Hast Du das verdient?
Möge das Leben schön für Dich werden und möge unsere Tochter glücklich werden. Ich vermisse Dich und werde Dich immer lieben.
Dein Levi
Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie hält Levis Brief zwischen ihren zittrigen Fingern. Das Papier ist dick, porös, elfenbeinfarbig und fängt jeden einzelnen salzigen Tropfen auf. Sie faltet langsam das Papier und legt den Brief in die Holzkiste zu all den anderen, von denen jeder einzelne so - sehr - weh - tut. Die Gedanken und Erinnerungen an Levi fühlen sich an wie eine blutende Wunde, aus der beständig Lebensenergie strömt. Sie wünscht sich, es gäbe ein Heilmittel, um die Verletzung zu schließen und um die qualvollen, nächteraubenden Schmerzen endlich zu stillen.
Sie liebt ihn noch immer, aber es gibt kein Zurück mehr. Selbst wenn sie es wollte. Das TREECSS hat Levi alle Erinnerungen genommen. Die Xmemorarenikation ist ein Verfahren, eine Fähigkeit, über das die wenigsten irgendetwas wissen. Das war sein letzter Brief und es ist bestimmt besser so.
Aeia denkt an Naomi ihre wundervolle Tochter und versinkt in noch tieferer Traurigkeit. Was soll aus Naomi werden? Wird sie überleben und das TREECSS eines Tages als erwachsene Frau verlassen?
Sie ist ja erst siebzehn Jahre alt. Viel zu jung, um diese Welt schon wieder zu verlassen. Manchmal hätte Aeia gerne so eine Art Kalender, an dem sie jeden Abend ein Blatt abreißen könnte. Ein Tag länger, an dem sie ihrer Tochter in die Augen blicken kann. In nicht einmal einer Woche wird Naomi achtzehn. Sie betet zu Gott, dass es nicht die letzten sieben Blätter des Kalenders sind. Dann wäre sie erwachsen und könnte tun und lassen, was sie will. Naomi ist zur Hälfte ein Mensch, ihr steht dieses Recht zu.
Aeia ist nach dem Tod ihres Sohnes eine echte Glucke geworden. Sie hat nach der Trennung von Levi, als alleinerziehende Mutter, eine Menge neuer Fähigkeiten dazugewonnen. Ihr könnten bei TREECSS ganz neue berufliche Wege offenstehen.
Sie musste jahrelang ihre Arbeit als Kriminalpsychologin stark zurückschrauben, musste so viele Dinge des Familienalltags gleichzeitig im Kopf haben. Alltägliches, das sich ständig kompliziert gegenseitig beeinflusste und das sich durch die unberechenbaren und irrwitzigen Arbeitszeiten bei TREECSS und das unkontrollierbare Verhalten ihrer heranreifenden Tochter einer Kampfansage an den Alltag glich. Die Zeit ist vorbei, als Naomi an ihr zerrte und pausenlos auf sie einredete, während Aeia verzweifelt versuchte, in einem Fall zu recherchieren und nebenbei für ihre Tochter da zu sein. Aeia wäre jetzt ganz sicher fit für einen hohen Managerposten bei einem der großen Multi-Konzerne in der Europäischen Union. Ein größeres Irrenhaus als das ihre, kann das auch nicht sein. Und die Vorstellung, dafür dann auch noch vollkommen unangemessen hoch bezahlt zu werden, findet sie auch sehr reizvoll.
Sie hat sich oft gefragt, warum nicht die hardcore, organisationserprobten, Multitasking-Mamas in der Wirtschaft alle Spitzenposten besetzen? Aber eigentlich ist es klar, warum das nicht so ist: Sie werden bei ihrer Familie dringender gebraucht, und wenn die Kinder irgendwann ausgezogen sind, haben sie kein Bedürfnis mehr danach.
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