»Tja, wenn uns das Glück hold ist, dann haben wir eine.« Aus seiner Hemdtasche nahm Bud mit spitzen Fingern ein am unteren Ende stark zerfasertes Holzstäbchen.
»Was soll das denn sein?«
»Ein Miswak, die hiesige Version einer Zahnbürste. Der Zweig eines bestimmten Baumes, dessen Ende man so lange zerkaut, bis es bürstenartig wird. Kam vielleicht mit der Islamisierung nach Indonesien, oder sogar schon vorher. Ich habe ihn zwischen dem ganzen Gerümpel entdeckt und dachte, es könne nicht schaden, ihn heimlich einzustecken. Stammt zwar wahrscheinlich aus der Zeit, als der gute Eko Rimba noch Zähne hatte, aber seine DNA sollte Karim trotzdem darauf finden können. Hätten Sie vielleicht einen sterilen Beutel?«
»Bud, Sie sind ein Schlitzohr, aber ein geniales!«, strahlte der Doktor. »Worauf warten wir? Schnell nach Hause!«
Im Hotelzimmer hatten inzwischen die drei übrigen Expeditionsteilnehmer dem Chaos den Kampf angesagt, das Verpackungsmaterial entsorgt und die Ausrüstung zwischenzeitlich auf vier riesige Rucksäcke aufgeteilt. Außerdem reduzierte Ellen drastisch die Menge persönlicher Gegenstände, damit der Platz überhaupt ausreichte. Einen Sonderfall stellte das DNA-Labor dar: lediglich dem Namen nach ›mobil‹, tatsächlich aber unhandlich groß. Karim beabsichtigte, es selbst in einem Tragegestell zu schleppen, da er persönlich für dessen Unversehrtheit die Verantwortung trug.
Jetzt hockten alle drei auf einem der Betten, und Ellen studierte gemeinsam mit Deborah intensiv eine zwischen ihnen ausgebreitete Landkarte. In diese Szenerie platzten Bud und Dr. van Houten, der den Miswak im Probenbeutel gleich einer Trophäe vor sich hertrug.
»Karim, bitte das Labor hochfahren, es gibt Arbeit!«, rief er schon an der Türe. Der junge Wissenschaftler sprang auch gleich auf, schritt zum DNA-Tester und schaltete das Gerät ein. Dann setzte er umständlich eine Laborbrille auf, nestelte einen Mundschutz aus seiner sterilen Verpackung und legte ihn an. Bis er schließlich OP-Handschuhe überstreifte und mit einem Wattestäbchen in der Hand zu Bud und Dr. van Houten trat, zappelten beide inzwischen ungeduldig wie zwei Schüler, denen der Gang zur Toilette untersagt worden war. Karim nahm den Miswak aus dem Beutel, tupfte das zerfaserte Ende sorgfältig mit dem Teststäbchen ab, steckte es in eine vorbereitete Phiole, schob diese in das Gerät und schloss die Probenklappe. Das Gerät quittierte den erfolgreichen Ladevorgang mit kurzem Summton, worauf sich Karim der Handschuhe entledigte und auf dem Touchscreen herumzutappen begann.
»Ihr könnt euch entspannen«, erklärte er dem ihn gebannt gaffend im Halbkreis umringenden Publikum. »Das dauert jetzt ein Weilchen …«
Widerwillig wandten sich die anderen ab, während sich Karim einen Stuhl angelte und vor den Bildschirm setzte. Van Houten seufzte.
»Na schön, dann besprechen wir eben inzwischen die Route. Wie ich sehe, habt ihr ja schon damit angefangen.«
Deborah deutete auf die Karte: »Ja, Ellen und ich sind sich eigentlich schon einig, was das Ziel betrifft, nämlich jenes Hochtal im Kerinci Seblat Nationalpark, wo mir damals der Orang Pendek begegnete. Wir haben aber noch über die Route dorthin diskutiert. Es gibt einen kürzeren, aber sehr anstrengenden Weg, der zwar in einem Tag zu schaffen wäre, wobei wir aber eine Schlucht queren müssten, was ich angesichts unseres Gepäcks eher nicht empfehlen würde. Der andere Weg kostet uns zwar zwei Tage, aber dafür ließe sich die Schlucht umgehen. Da ich nicht weiß, wie es um Ihre Kondition – oder die von Bud und Karim – bestellt ist, wäre es meiner Meinung nach besser, für den Anfang den einfacheren Weg zu nehmen. Was meinen Sie?«
Dr. van Houten ging zu einem der gepackten Rucksäcke, fasste ihn an den Trägern, hob ihn probeweise ein Stück an, ließ ihn aber sogleich wieder sinken und lächelte verlegen: »Existiert vielleicht noch ein dritter Weg? Kurz und trotzdem einfach?«
Ellen lachte: »Hey, Doc, machen Sie sich nichts daraus. Nach unserer Tour schultern Sie das Teil mit links, Sie werden sehen!«
»Oder ich mutiere zum Hobbit, weil ich ein gestauchtes Rückgrat vom Tragen und außerdem Plattfüße haben werde …«
Auch Bud testete das Gewicht des Gepäcks und schloss sich der allgemeinen Meinung an, die leichtere Route zu nehmen. Seit dem Ausflug mit Dr. van Houten verhielt er sich überhaupt bemerkenswert ruhig, warf nur hin und wieder einen verstohlenen Blick auf Ellen, die ihn aber weitestgehend ignorierte. Während ihrer gemeinsamen Fahrt hatte ihm der Doktor die Begebenheit mit dem Straßenjungen erzählt und auch die ›Tigergeschichte‹. Vor allem Letztere verunsicherte Bud sehr – wie sollte er sich der Powerfrau gegenüber verhalten, um nicht womöglich das Schicksal des Tigers zu teilen? Karims Stimme riss ihn aus seinen Gedanken und bewirkte außerdem, dass sich alle wieder hastig rund um den Genetiker versammelten.
»Ich habe jetzt die Analyse beendet, aber das Ergebnis wird euch nicht gefallen«, eröffnete dieser mit resignierter Miene.
»Kein Ebu Gogo ?«, fragte Dr. van Houten.
»Nicht einmal ein winziges Bisschen. Zu hundert Prozent ein lupenreiner Homo sapiens!«
»Tja, dachte ich mir schon. Leider schon seinem Verhalten nach zu erwarten. Wäre wirklich zu schön gewesen!«, seufzte der Doktor. »Aber was soll’s. Wenigstens ist das Gepäck jetzt wirklich gut verstaut, und morgen kann unsere eigentliche Suche beginnen. Aus diesem Anlass würde ich gerne alle Teilnehmer heute zu einem ausgiebigen Abendessen hier im Hotel einladen. Wer weiß, wann wir das nächste Mal eine vernünftige Mahlzeit bekommen werden. Sagen wir, um halb acht?«
Die angehenden Expeditionsmitglieder nickten dankbar – und hungrig.
Nicht zuletzt aufgrund der ausgezeichneten einheimischen Küche verlief das Abendessen trotz der vorangegangenen Enttäuschung dann doch in erwartungsvoller und ausgelassener Stimmung. Wie in Padang Sitte, wurde den Gästen alles angeboten, was die Köche an diesem Tag zubereitet hatten, sodass sie direkt am Tisch aus vielfältigsten Speisen frei wählen konnten. Da gab es Fisch und Meeresfrüchte, gebratenes Huhn, Sate genannte Fleischspieße sowie als Beilage Reis, Maniok und Yamswurzel. Dazu verschiedene Soßen, wie das aus fermentierten Garnelen hergestellte Terasi , oder die besonders scharfe Chilisoße Sambal . Letztere bildete auch den Grund dafür, dass man dem indonesischen Bintang -Bier kräftig zusprach.
Der Einzige, der etwas bedrückt schien, war Bud Waters. Einerseits belastete ihn, dass die Expedition aufgrund seines Vorschlages, Eko Rimba aufzusuchen, einen Tag verloren hatte, andererseits entmutigte ihn, dass Ellen Sindar ihm permanent die kalte Schulter zeigte. Und das, obwohl er es einrichten konnte, neben ihr zu sitzen, und schon während des ganzen Abends ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen versuchte. Zwar lächelte sie jeweils höflich angesichts seiner Avancen, interessierte sich ansonsten aber eindeutig mehr für die Tischgespräche der Anderen. Deborah lächelte hin und wieder still in sich hinein, während sie insgeheim seine erfolglosen Versuche beobachtete.
Als die Expeditionsmitglieder sich schließlich überaus gesättigt zurücklehnten, während der Service die Nachspeisenteller abtrug, erhob sich Dr. van Houten, ergriff sein Glas und setzte zu einem Toast an. Bevor es jedoch dazu kam, trat ein Indonesier in khakifarbener Uniform zu ihm und stellte in nahezu akzentfreien Englisch eine Frage: »Entschuldigen Sie bitte vielmals die Störung, aber sind Sie Dr. van Houten?«
»Ja, allerdings«, erwiderte der Gefragte ein wenig irritiert.
»Und Sie sind Dr. Deborah Lindsey?«, wandte sich der Uniformierte an die Zoologin.
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