„Wieso macht er sich eigentlich selbstständig. Keiner gibt einen so gut bezahlten Job auf. Da bleibt man doch, wenn man einen sicheren Arbeitsplatz hat. Und Anne. Mal ernsthaft. Wer soll einem so jungen Schnösel sein Geld bringen in so unsicheren Zeiten. Da legen doch sowieso alle ihr Geld in Gold an. Wenn sie überhaupt noch Geld haben zum Anlegen. Seit wir Renter sind, haben wir ja auch nichts mehr. Das mit der Selbstständigkeit verstehe ich nicht. Er hat doch auch Verantwortung gegenüber seinen Kindern und gegenüber dir. Und jetzt wechselt er in kurzer Zeit zum dritten Mal den Job. Das macht sich doch auch im Lebenslauf schlecht. Und immer sind andere Schuld. Ach, hoffentlich war es die richtige Entscheidung. Weil wenn das nichts wird mit der Selbstständigkeit, dann wird es schwer wieder etwas zu finden. Wer nimmt ihn denn dann noch. Sicher nicht auf einer gleichwertigen Position. Da kann er wieder ganz von unten anfangen. Und er hatte so einen guten Job und gibt das einfach auf. Das will nicht in meinen Kopf.“
Ich quittierte immer wieder mit einem einfachen „ja“ oder einem „Ja, Mama“. Wenn sie sich so in Rage redete, dann war sonst kein Kraut dagegen gewachsen.
„Jetzt schau, dass du heimfährst. Und ruf mich gleich an, wenn du da bist.“
„Noch bevor Moritz im Bett ist oder kann ich das auch danach?“
„Der Junge muss ins Bett. Dann rufst du an“.
Die kleine Spitze schien sie nicht bemerkt zu haben.
Moritz musste in der kurzen Zeit beim Arzt zugenommen haben, denn meine Arme wurden länger und länger, als ich ihn bis ins Dachgeschoss trug. Der Kleine war total ruhig, kraftlos, ohne Anspannung. Wie ein nasser Sack.
Ich war noch nicht ganz oben angelangt, da hörte ich schon mein Telefon klingeln. Oh Gott – Mutter. Ich komme.
Schnell schloss ich auf und ging ins Wohnzimmer, um das schnurlose Telefon zu greifen. Ach, es war nicht Mama sondern Robert.
„Hallo? Ich habe das Postfach! Komm rüber! Setz Moritz vor den Fernseher! Los, zack zack.“
„Ich komme gleich…“ wollte ich sagen, aber Robert hatte schon eingehängt.
„Mama, ich friere!“
Ich setzte Moritz auf das Sofa und wickelte ihn in die Decke. Es sah richtig gemütlich und kuschelig aus. Ich schaute auf die Uhr. Seit dem letzten Ibusaft waren schon vier Stunden vergangen. Ich konnte also wieder etwas gegen das Fieber geben – nur eben kein Ibu sondern Paracetamol. Ich nahm das Fläschchen aus dem Küchenschrank und kippte die durchsichtige Flüssigkeit in den Messbecher. Es sah so ganz anders aus, als Ibuprofen.
Die Teekanne stand noch auf dem Frühstückstisch. Ich füllte eine Tasse mit dem abgestandenen Tee und ging zu Moritz ins Wohnzimmer zurück. Ich schob ihm den Messbecher mit Medizin zum Mund.
„Nimm das und dann kannst du mit Tee nachspülen.“
Ich griff nach der Fernbedienung für den Fernseher und schaltete Kika ein. Mit dem Ohrthermometer prüfte ich Moritz‘ Temperatur. 39.3°C – Gott sei Dank. Dann könnte ich kurz in die Nachbarschaft. Mal schauen, was der so wichtiges haben würde.
„Moritz. Ich geh schnell rüber zu Robert, aber ich komme gleich wieder, ja?“
Moritz nickte und kuschelte sich an das Kissen. „Geh mal aus dem Bild, Mama, ich will das sehen.“
Ich schlüpfte in meine Crocks und lief die Treppen runter. Endlose drei Stockwerke und ohne Aufzug. Für den Schneematsch auf der Straße trug ich die falschen Schuhe. Bemüht, meine Socken trocken zu halten, tippelte ich bis zum Nachbarhaus. Als ich klingeln wollte, summte es und ich drückte die Tür auf. Ich wurde erwartet. Robert wirkte angespannt und sein sonst so freundliches Lächeln fehlte. Ich zog meine Schuhe aus und trat ein.
„Ich hoffe, du hast was Wichtiges.“
Robert zerrte mich beinah ins Wohnzimmer. Dort stand sein Notebook aufgeklappt und vorbereitet auf dem Esstisch.
„Setz‘ dich und lies.“, wies er mich an.
Und ich setzte mich und begann zu lesen. Nur konnte ich nicht glauben, was ich da las. Die Buchstaben formten Worte, die ich nicht glauben wollte.
Mein Mann traf sich mit der Nachbarin.
Sie verabredeten sich zum Essen - offensichtlich schon öfters - dabei wurden intime Einzelheiten ausgetauscht.
Ich war sprachlos und fühlte mich, als würden zwei eiskalte Hände meinen Hals greifen. Gerhard traf sich mit einer anderen Frau. Und mir gab er vor zu arbeiten!
Ich war enttäuscht. Ich war traurig. Ich war hilflos. Meine schlimmsten Albträume waren nicht Furcht erregender. Tränen rannten mir über das Gesicht und ich wollte nur noch raus. Keinesfalls wollte ich Robert zeigen, wie sehr mich der E-Mail-Verlauf verletzte.
„Ich muss wieder zu Moritz.“, schob ich vor.
„Was sagst du? Was denkst du?“, fragte Robert.
„Ich kann gar nichts sagen. Höchstens den Arsch wird‘ ich ihm anzünden.“
„Nein, mach das nicht.“ Robert wirkte erschrocken. „Lass uns überlegen, was wir machen.“
„Ja, aber ich muss jetzt rüber zu Moritz.“
Kurz angebunden verabschiedete ich mich von meinem Nachbarn.
Raus.
Luft. Ich brauchte dringend Luft. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Wenn ich richtig gelesen hatte, dann waren sie wieder verabredet. Aber für welchen Tag? Vielleicht heute zum Essen? Ich fand das merkwürdig. Ständig war er unabkömmlich, schien Termine über Termine vorzuschieben, Besprechungen und sonst was. Und das, obwohl er der Meinung war, er hätte Zeit für uns. Gerade jetzt in der Phase zwischen freigestellt sein und Beginn der Selbstständigkeit. Er wollte so viel erledigen. Den Kniestock wollte er ausbauen für Stauraum und für eine Spielhöhle in die Wand. Mit mir wollte er wegfahren, vielleicht nach Paris. Viel mehr Zeit für seine Kinder wollte er sich nehmen. Sein bisheriger Job ließ das nicht zu, da kam er meist erst dann heim, wenn alles getan war, ich den Haushalt erledigt und die Kinder ins Bett gebracht hatte. Und dieser Pharisäer schob seine Karriere vor, um mit einer anderen Frau rum zu machen? Karriere. Auf die verzichtete ich zugunsten der Kinder. Damals verdienten wir gleich viel. In kürzester Zeit kletterte Gerhard die Erfolgsleiter nach oben. Die Familie musste zurückstecken und ich hielt ihm den Rücken frei, wie abgemacht. Und was machte dieser …
Auf den wenigen Metern zu meiner Wohnung kreuzten sich die Gedanken in meinem Kopf.
Moritz war eingeschlafen. Ich fühlte seine heiße Stirn. Schlaf würde ihm gut tun.
Erneut versuchte ich, Gerhard telefonisch zu erreichen – wieder nur die Mailbox. Jetzt erinnerte ich mich daran, dass er sich mit seinen Kollegen besprechen und dazu in angemietete Büroräume gehen wollte. Ein langes Meeting sei es. Die Räumlichkeiten seien wohl bei einer Firma, die auch einen Büroservice anbot. Aber: Sagte er nicht, dass dort nur langfristig vermietet würde und nicht ad hoc?
Ich rief Robert an.
„Kannst du mir die Nummer einer Büroservicefirma auf der Königsstraße raussuchen? Ich weiß leider nicht mehr wie sie heißt.“
Robert meinte, dass Google nur ein Suchergebnis ausspuckte. So erhielt ich schnell die gesuchte Nummer und legte auf.
Mein Anruf bei dem Serviceunternehmen war erfolglos.
„Tut mir leid, aber wir kennen weder einen Herrn Johann, noch die Firma, für die er arbeiten soll.“, sagte die Sekretärin.
Also war auch das gelogen. Für einen gläubigen Katholiken, der mit Tischgebet und allem aufwuchs, war das schon ein ganzes Bündel für die Beichte. Aber vielleicht war das Meeting auch wo anders? Wenn ich nur Gerhards Kollege erreichen könnte…
Ich suchte in unserem Wohnzimmerschrank nach der Visitenkarte und wählte die T-Mobilnummer, die handschriftlich notiert war. Nach dem zweiten Freizeichen meldet sich Gerhards Kompagnon.
„Herr Krämer, können Sie mir Gerhard geben? Er hat sein Handy ausgeschaltet und er trifft sich doch mit Euch.“
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