Hinter der Tür entdeckte er eine der Schleifen, die Lena sich so gern ins Haar flechten ließ, und hob sie auf. Tränen, die ihn die ganze Nacht über geflohen waren, schossen wie Sturzbäche aus seinen Augen. Arno presste die Schleife an sich und heulte wie ein waidwundes Tier, aber er konnte nichts dagegen tun.
Als er leer geweint war, machte er sich einen Tee mit dem letzten Beutel, den er in einer Ecke des Küchenschrankes fand, und beobachtete, wie die Sonne aufging. Der Tee war kalt, als er ihn schließlich trank.
Eigentlich müsste er zur Arbeit fahren, aber er wusste, dass er dazu nicht die Kraft besaß. Nicht mal die Kraft, um anzurufen und sich abzumelden. Eine unbekannte Schwere drückte ihn in den Stuhl. Wenn er nur den Hauch einer Ahnung hätte, in welcher Gegend sich seine Kinder aufhielten, wäre er aufs Geratewohl losgefahren. Aber er wusste es nicht. Es konnte überall sein.
Ruckartig richtete er sich auf. Die Schule! Er könnte sie von der Schule abholen! Selbst wenn Katja ebenfalls dort war, sie konnte nicht verhindern, dass er seine Kinder wiedersah.
Arno sprang auf, zum ersten Mal seit gestern Abend wieder mit einem Ansatz von Hoffnung, und suchte die Nummer des Sekretariats von Jonas‘ Schule aus dem Telefonbuch. Er hatte die Sekretärin auf diversen Schulveranstaltungen getroffen und war sich sicher, dass sie ihn nicht abweisen würde.
Tatsächlich nahm ihre Stimme einen freudigen Klang an, als sie ihn erkannte. Doch als er sie fragte, wann Jonas Schulschluss habe, meinte sie verwundert: »Jonas? Der ist seit heute nicht mehr hier. Ihre Frau hat ihn doch schon vor Wochen abgemeldet.«
Arno hatte Schwierigkeiten mit der Atmung. »Ach ja«, würgte er hervor, »das hatte ich vergessen.« Er beendete das Telefonat.
Abgemeldet. Vor Wochen.
Schwankend stand er auf. Ging zum Fenster. Sah nichts.
Vor Wochen.
Er kehrte zum Telefonbuch zurück, suchte erst Jules Schule und dann Lenas Kindergarten heraus. Überall das gleiche.
Abgemeldet.
Vor Wochen.
***
»Die erste Nacht war nicht einfach«, sagte Katja, »weder für mich noch für die Kinder. Aber es wird schon werden. Die Zeit heilt alle Wunden.«
Ihre Freundin am anderen Ende der Leitung sprach ihr Mut zu. »Du schaffst das«, meinte sie, »du bist eine starke Frau.«
»Ich muss sagen, das Beratungsgespräch im Frauenbüro war wirklich Gold wert. Die Mitarbeiterin hat mir jede Menge Tipps gegeben, wie ich den Auszug vorbereiten muss, damit Arno nichts mitbekommt. Hat mir einen Haufen Stress erspart. Ich glaube, der Ärmste hat bis zuletzt nichts geahnt.« Katja lachte. »Männer sind ja so naiv.«
»Wem sagst du das.«
»Ich muss ihn nachher noch anrufen. Ein bisschen Bammel hab‘ ich schon. Wie ich ihn kenne, wird er kein Verständnis für mich haben. Dabei kann nun wirklich jeder meine Gründe nachvollziehen.«
»Natürlich. So konnte das doch nicht weitergehen mit euch beiden.«
»Eben. Ich bin in der Beziehung kaputtgegangen. Wenn Arno nach Hause kam, oft erst nach acht, war er zu nichts mehr zu gebrauchen. Dann hing er bloß noch auf der Couch. Ich bin ein lebenslustiger Mensch, ich will auch mal ausgehen, tanzen, mich vergnügen. Habe ich etwa kein Recht auf ein bisschen Spaß? Das wurde mir alles zu eng. Ich habe mich gelangweilt.« Sie schnaubte bei der Erinnerung daran. »Irgendwie finde ich es gerecht, dass Arno jetzt alleine ist. Da sieht er mal, dass es noch mehr auf der Welt gibt als bloß Arbeit. Natürlich tut er mir auch leid, ich bin ja schließlich kein Eisblock. Ich frage mich, was er wohl gerade macht. Ob er zu Hause sitzt und sich die Seele aus dem Leib heult? Jetzt, wo es zu spät ist, vermisst er mich bestimmt. Der Ärmste. Schade, dass ich nicht mitansehen konnte, wie er reagiert hat, als er in die ausgeräumte Wohnung kam und wir alle weg waren.«
Bei der Vorstellung an das dumme Gesicht, das er vermutlich gemacht hatte, musste Katja lachen. Sie war eben immer noch für eine Überraschung gut.
***
Zwei Tage nach dem Auszug rief seine Frau endlich bei ihm an. Arno hatte sich geschworen, ihr keine Vorwürfe zu machen, um das Gespräch nicht zu belasten, aber er konnte dann doch nicht anders als herauszuplatzen: »Warum? Warum hast du das getan?«
»Ist das nicht offensichtlich?«
»Nein. Wir hätten unsere Probleme anders regeln können. Ich habe dir gesagt, lass uns eine Paartherapie machen.«
»Dazu ist es zu spät.«
»Warum? Erklär’s mir.«
»Du würdest es doch nicht verstehen.«
»Warum konntest du unsere Ehe nicht wenigstens auf anständige Weise beenden?« Die Verbitterung in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Es war schon im September aus zwischen uns, du hast dich bloß geweigert, die Zeichen zu sehen.«
Du hast dich feige verdrückt, dachte er. Wie immer, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen. Aber er biss sich auf die Lippen und sprach es nicht aus. Stattdessen sagte er: »Ich will die Kinder sehen.«
»Das ist zeitlich ungünstig.«
»Zeitlich ungünstig.« Er betrachtete die Worte wie etwas, das jemand aus einer exotischen Gegend mitgebracht hatte.
»Ja«, fuhr sie fort, »sie sind durch die Trennung belastet, und wenn du sie jetzt noch hin- und herzerrst, wühlt sie das zu sehr auf.«
Arno kämpfte gegen die Wut an, die ihn wie eine Springflut zu überschwemmen drohte. » Du hast ihnen diese Art Trennung zugemutet. Wenn sie etwas belastet, dann die Tatsache, dass du sie von ihrem Vater fortgezerrt hast, also komm mir nicht mit diesem Schwachsinn.«
»Ich wusste, du würdest es nicht verstehen. Hör zu, ich habe einen Schlussstrich gezogen, je eher du das akzeptierst, desto besser.«
» Du hast einen Schlussstrich gezogen, nicht die Kinder.«
»Ich will mich nicht mit dir streiten. Respektiere einfach meine Entscheidung. Das Wohl der Kinder steht für mich an erster Stelle.«
Arno zwang sich zur Ruhe; es kostete ihn alle Kraftreserven, die er noch besaß. Denk an die Kinder, dachte er, es geht nur um sie. Was Katja sagt, spielt keine Rolle. Konzentriere dich auf das, was zählt. »Ich möchte sie sehen«, wiederholte er.
»Das ist keine gute Idee. Sie fangen gerade an, sich an ihre neue Umgebung zu gewöhnen; wenn du sie jetzt emotional durcheinanderrüttelst, fangen sie hinterher wieder bei null an.«
»Ich habe ein Recht darauf, Katja, und die Kinder haben ein Recht auf ihren Vater.«
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir dieses Gespräch beenden, bis du in einer kooperativeren Stimmung bist.«
»Warum tust du das?«
»Was?«
»Warum versuchst du, die Beziehung zwischen mir und den Kindern kaputtzumachen?«
»Tu‘ ich nicht, ich will nur das Beste für sie. Und das Beste ist nun mal, dass sie endlich zur Ruhe kommen.«
»Katja, ich möchte die Kinder sehen.«
»Lass uns ein andermal darüber sprechen. Ich rufe dich irgendwann zurück.«
»Nicht irgendwann, wir reden jetzt. Ich bemühe mich darum, mich zu beherrschen, aber treib es nicht zu weit. Du wirst mir nicht die Kinder wegnehmen, hörst du?«
»Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass du sie überhaupt sehen willst.«
»Überrascht?«
»Ja. Du warst doch sowieso nie für sie da. Außer Arbeit kanntest du ja nichts. Warum willst du dich jetzt partout wieder in ihr Leben drängen?«
Arno rang nach Luft, weil er an dem, was sich in seinem Magen ansammelte, zu ersticken drohte. Er wollte schreien, er wollte sie durchs Telefon packen und so lange würgen, bis er den letzten Rest Bösartigkeit aus ihrem Leib gepresst hatte, aber er konnte nur stammeln. »Du … du …«
»Ich dachte, ich könnte vernünftig mit dir reden, aber anscheinend ist das im Augenblick nicht möglich, du bist noch zu emotional gefangen. Ich rufe dich irgendwann wieder an«, sagte sie und legte auf.
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