Typisch, wenn man ihn braucht, ist er nicht da , ärgerte sie sich. Ich muss Sleipnir wieder auf die Beine bekommen, wie die mutige Kaja in dem Buch, das ich gelesen habe. Da war auch ein Pferd krank und musste unbedingt herumgeführt werden.
„ Dazu muss ich ihm erst einmal ein Halfter anzieh'n“, murmelte sie, eilte um die Ecke und stolperte über einen Besen, der an der Stallwand lehnte. Sie verlor das Gleichgewicht, versuchte an einem Balken Halt zu finden, rutschte aber ab und stolperte genau in den Schubkarren, in dem zwei Schaufeln Dreck und ein paar Pferdeäpfel lagen. Der Karren kippte samt Franzi um. Blitzschnell rollte sie sich zusammen und hielt die Arme schützend über den Kopf. Der Schubkarren lag über ihr, wie der Panzer einer Schildkröte. Schimpfend kroch sie darunter hervor, klopfte sich oberflächlich die Kleider ab und rannte weiter.
Atemlos und schmutzig stand sie kurz darauf wieder vor dem kranken Pony. Nach einigen Versuchen gelang es ihr, das Halfter über seinen Kopf zu streifen. Dann zog sie fest am Strick, aber Sleipnir beachtete sie nicht. Er wälzte sich panisch von einer Seite zur anderen.
„Bitte steh doch auf! Komm, steh auf, du musst aufsteh'n!“, flehte sie und zog dabei so kräftig sie konnte am Führstrick. Aber der Wallach blieb liegen. Franzi wurde es mulmig. Sie spürte, dass es gefährlich werden würde, wenn sie ihn nicht hochbekam. Also nahm sie das Ende des langen Stricks und fing an, damit zu kreisen. Das beeindruckte ihn offensichtlich auch nicht. Jetzt ließ Franzi das Ende des Stricks auf seinen Körper klatschen und zog ruckend am Seil.
„Hoch!“, befahl sie mit zittriger Stimme. Endlich versuchte der Wallach, aufzustehen.
„Ja, super.“ Franzi hüpfte auf der Stelle. Zuerst stellte er einen Vorderfuß und danach den zweiten auf, sodass er saß. Ein zentnerschwerer Stein fiel ihr vom Herzen.
„Ja, toll. Komm, mein Kleiner!“, krächzte sie und schluckte hart. Abermals zog sie ruckend und schwang das Ende des Seils in Richtung seiner Hinterhand.
Hurra, endlich stand er auf zitternden Beinen und schüttelte sich. Erleichtert lobte sie den Wallach und versuchte ihn herumzuführen. Langsam, steifbeinig stakste er hinter dem Mädchen her, das die ganze Zeit beruhigend auf ihn einredete: „Du brauchst keine Angst zu haben, ich helfe dir, ich bin ja da, ich lass dich nicht im Stich. Wir müssen schnell zu unserer Chefin, die holt den Tierarzt, der gibt dir dann eine Medizin und gleich geht's dir wieder besser. Hab keine Angst ...“ Franzi wusste nicht, wer mehr Angst hatte, sie oder Sleipnir, der jetzt vertrauensvoll hinter ihr herging.
Mit weichen Knien stand sie am Treppenaufgang, der zu Frau Knolls Wohnung führte. Franzi rief mit bebender Stimme nach oben: „Frau Knoll, schnell, ein Notfall, Sleipnir ist sehr krank.“ Keine Antwort.
Ich lass Sleipnir nicht noch mal allein.
Unschlüssig lief sie mit ihm vor der Treppe hin und her. Dann fiel ihr ein, dass Frau Knoll sicher mittlerweile im Speisesaal war. Schleunigst machten sie sich auf den Weg dorthin.
Natürlich, warum bin ich nicht schon früher darauf gekommen, es gibt ja jetzt Frühstück , dachte sie vorwurfsvoll.
Franzi riss die Tür vom Speisesaal auf. Ein ohrenbetäubender Lärm schlug ihnen entgegen. Es duftete nach Kakao und frischen Brötchen. Ängstlich blieb Sleipnir im Türrahmen stehen und starrte mit weit aufgerissenen Augen in den Saal. Franzi rief mit lauter Stimme nach Frau Knoll. Von einem Augenblick zum anderen war es mucksmäuschenstill und Franzi, die mit leuchtenden Wangen, schmutzigen Kleidern und dem Pony im Türrahmen stand, wurde mit entgeisterten Blicken gemustert.
Margarete Knoll sprang von ihrem Stuhl auf. Mit böser Miene marschierte sie auf die beiden zu. Die Wut trieb ihr Blut ins Gesicht. Ängstlich zog Franzi den Kopf ein.
O, o, gleich killt sie mich.
Gerade in dem Moment, als Frau Knoll den Mund öffnete, um Franzi anzubrüllen, ging Sleipnir, sich vor Schmerzen krümmend, zu Boden. Einige der Mädchen schrien auf und rannten zu ihnen. Margarete Knolls Gesicht wechselte die Farbe von tomatenrot zu kreidebleich.
„Was ist denn mit ihm los?“, rief sie erschrocken. Auch Olli kam angerannt. Franzi erzählte stichwortartig die Situation. „Führt ihn herum!“, befahl Frau Knoll. „Ich rufe den Tierarzt.“
Franzi fing an, die Ohren von Sleipnir zu massieren, wie sie es in einem Buch über Pferdemassage gelesen hatte, das sollte entkrampfend wirken. Olli lief aufgeregt um das Pony herum. „Wir müssen versuchen ihn wieder auf die Beine zu bekommen, das sieht verdammt nach einer Kolik aus.“ Franzi redete aufmunternd auf das kranke Pony ein und zog am Strick. Olli versuchte, es von hinten wieder auf die Beine zu bekommen.
Endlich stand der Wallach wieder. Das schweißnasse Fell klebte an seinem zierlichen Körper. Franzi massierte seine flauschigen Ohrspitzen, während Olli ihn auf dem Hof herumführte. In kurzen Abständen blickten sie zu dem großen schmiedeeisernen Tor mit den goldenen Pferdeköpfen. Ein paar der Mädchen hielten dort Ausschau, nach dem Tierarzt.
Sleipnir hatte Glück, denn der Tierarzt befand sich gerade in der Nähe und war recht schnell da. Dr. Schwörer, ein ruhiger, sympathischer Mann, mittleren Alters mit kleinem Bauchansatz und Brille, untersuchte das Pony gründlich. Er diagnostizierte eine Dünndarmkolik und gab ihm eine krampflösende Spritze.
Alle starrten das braune Pony mit der schwarzen, kurzen Strubbelmähne erwartungsvoll an. Allmählich glättete sich sein angespannter Gesichtsausdruck und es atmete wieder ruhiger.
„Von was ist Sleipnir denn so krank geworden?“, fragte die achtjährige Johanna, die immer Flechtenzöpfe trug, mit besorgter Stimme.
„Wahrscheinlich hat er etwas gefressen, das er nicht vertragen hat: frisches Brot, Giftpflanzen, verschimmeltes Futter ... Man weiß ja nie, was die Leute alles über den Zaun werfen“, erklärte der Tierarzt und wandte sich an Franzi: „Das hast du sehr gut beobachtet. Wenn du nicht so aufmerksam gewesen wärst, hätte der Kleine an der Kolik sterben können.“ Margarete Knoll schloss sich dem Lob an und Olli legte beschämt den Arm um Franzis Schultern.
„Das war echt cool von dir, ich war vorhin wohl blind.“
„... und blöd“, ergänzte Franzi, lächelte aber schon wieder. Verlegen fuhr sie sich durch die Haare und zupfte sich Heuhalme heraus.
Hoffentlich stinke ich nicht nach Mist , sorgte sie sich, während Olli sie im Arm hielt . Die Mädchen sahen sie anerkennend an. Heiße Glückswogen durchströmten Franzi. Ihre Wangen glühten. Diese lang ersehnte Anerkennung saugte sie auf, wie ein halb verdurstetes Kamel, das in der Wüste ein Wasserloch gefunden hatte, denn die Tage zuvor waren mehr als enttäuschend gewesen.
Der Ponyhof Triptrab
Der Ponyhof Triptrab
Franzis Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Warum immer ich?“, zischte sie durch die Zähne und pfefferte den Zackenstriegel in die Putzkiste, die vor ihr auf dem Boden stand. Staub und Pferdehaare wirbelten daraus hervor. Wütend knallte sie den Deckel zu. Vinur zuckte kurz zusammen. Wieder hatte Margarete Knoll sie zum Fegen verdonnert. Gerade jetzt, wo langsam die ursprüngliche Fellfarbe von Vinur unter den Dreckkrusten zum Vorschein kam, und sie mit ihm eine schwierige Bahnfigur auf dem Reitplatz üben wollte. Für ihre Begriffe hatte sie heute schon mehr als genug geschuftet.
Beruhigend streichelte sie dem Wallach über sein isabellfarbenes Fell. Auch seine Mähne und sein Schweif waren gelbbraun. „Sorry, du kannst ja nichts dafür.“
Vinur war eines von fünfundzwanzig temperamentvollen Schulpferden, die hier auf dem Island–Ponyhof Triptrab lebten. Franzi verbrachte schon zwei Wochen hier als Praktikantin. Sie hatte sich so auf das Praktikum gefreut, stellte aber gleich am Anfang fest, dass es kein Vergnügen war und körperlich sehr anstrengend.
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