Unsere Amis lebten auf der anderen Seite des Waldes. Wo genau das war, wusste ich nicht. Weiter als bis zum Fluss am Waldrand ging Oa nie mit mir. Allein und heimlich in den Wald traute ich mich dann doch nicht. Ich wollte unsere Amis nicht provozieren, hatte Angst, sie würden dann auch über unseren Garten, die Wiesen und die Allee Napalm abwerfen. Im Fernsehen taten sie das fast jeden Tag.
Ich nahm mir vor, es irgendwann einmal herauszufinden, was unsere Amis jenseits vom Wald trieben. In die Richtung ging ich zur Schule. Eines Tages würde ich mutig genug sein und einfach weitergehen.
Sobald ich jedoch in die netten, offenen Gesichter unserer Amis sah, verlor ich meine Angst. Ich begegnete ihnen im Parkcafé, wo ich mir ein Eis in der Waffel kaufte, am häufigsten allerdings im Plattenladen.
Oa und meine Mutter war es gar nicht recht, wenn ich dort meine Zeit verplemperte. Sie hätten es gerne gesehen, wenn ich mich mehr mit den Jungs aus meiner Klasse angefreundet hätte. Doch die interessierte nur das Gebolze mit dem Fußball. Der Einzige, mit dem ich mich gut verstand, und der sich auch nichts aus Fußball machte, war Willi. Er wohnte jenseits der Allee, in der Siedlung hinter dem Hügel und steckte seine Nase immerzu in Bücher. Vor allem in die von Jack London. Während er in der Stadtbücherei nach einer neuen Abenteuergeschichte suchte, hörte ich in der Tonkabine des Plattenladens die neuesten Scheiben. Manchmal kam Julia mit.
Sobald ich von dem Geld, das Oma und Opa Neumann mir zusteckten, wenn ich sie nachmittags ab und zu besuchte, ein paar Mark zusammengespart hatte, gab ich es für eine Single der Beatles aus. Das Schlimme war nur, dass viel schneller eine neue Platte erschien als ich Geld bekam.
Juli 1969
Als Astronaut würde ich Oa nicht beeindrucken. Sie saß mit mir vor dem Fernseher und ich war enttäuscht darüber, dass sie sich beim Gequatsche der Männer im NASA-Hauptquartier langweilte. »Willst du das wirklich die ganze Nacht sehen?«
»Hab doch morgen schulfrei«, sagte ich und versuchte meine Müdigkeit zu verbergen.
Ich verstand ja nicht, warum da im Fernseher nichts weiter passierte. Die Mondfähre war vor einer halben Ewigkeit neben einem riesigen Krater in den Staub gesunken, doch dieser Armstrong kam einfach nicht heraus.
Immer wieder sah Oa zur Uhr. Schließlich erhob sie sich mühsam von der Couch und ging zum Fenster. »Wenn sie nur anrufen würde«, sagte sie und mir wurde klar, dass sie wegen meiner Mutter so ungeduldig war.
»Es wird schon nichts passiert sein«, sagte ich.
Seit meine Mutter für Robert Staudte arbeitete, kam sie immer ziemlich spät nach Hause.
Oa wollte das nicht akzeptieren. Sie wies meine Mutter immer wieder darauf hin, dass Robert Staudte verheiratet und seine Frau obendrein schwer krank war. Und dass sich die Leute das Maul darüber zerreißen würden. Meine Mutter hatte nur mit den Schultern gezuckt.
Ich hatte Robert Staudte noch nie gesehen. Trotzdem war er mir irgendwie sympathisch, seit ich mitbekommen hatte, dass er meine Mutter am Telefon zum Lachen brachte.
»Du kannst mich ja wecken, wenn sich da noch etwas tut«, sagte Oa, wandte sich vom Fenster ab und ging hinauf.
Ich nickte, ohne die grieseligen, grauen Schatten im Fernseher aus den Augen zu lassen. Irgendwann musste ich eingedöst sein. Ich fuhr hoch und sah sofort den Schatten an der Ausstiegsluke.
Ich raste im Dunkeln die Treppe hinauf, stieß Oas Kammertür auf, tastete nach dem Schalter, fand ihn nicht auf Anhieb und rief: »Jetzt geht es los.« Es kam kein Laut zurück. Als das Licht brannte, beugte ich mich über Oa, um ihr die silbergraue Locke aus der Stirn zu pusten, wie ich es früher immer getan hatte, wenn ich bei ihr schlafen durfte. Auch darauf reagierte sie nicht. Ich berührte ihren Arm und stupste ihn mehrmals. »Kannst du nicht aufstehen? Wegen deinem Rücken?« Sie habe letzte Nacht deswegen kaum ein Auge zugetan, hatte sie mir gesagt. »Soll ich den Doktor anrufen?«, flüsterte ich. »Oa?« Ich geriet in Panik, stürmte die Treppe wieder hinunter. Als die hektischen Stimmen in mein Bewusstsein drangen, vergaß ich, was ich tun wollte und ging wie hypnotisiert zum Fernseher. Darin sah ich Staub aufwirbeln, einen Schatten, der sich staksig vorwärts bewegte.
Draußen fuhr ein Wagen vor, der Kies knirschte, dann ging die Haustür und meine Mutter kam zu mir. »Warum stehst du denn da?« Sie nahm mein Kinn, ich wehrte ihre Hand ab. »Sag mal, du schwitzt ja.« Sie fühlte meine Stirn. »Wenn du dich da so reinsteigerst, machen wir das aus.« Sie nahm mir die Sicht, und ich machte einen Schritt zur Seite, schließlich sagte sie: »Wollte Oa das nicht sehen?«
»Ja, schon, aber sie kann nicht.«
»Sie kann nicht? Was ist denn mit ihr?«
Ich starrte weiter in den Fernseher. »Sie hat sich nicht bewegt, als ich sie wecken wollte«, sagte ich leise. »Es ist wieder ihr Rücken.«
»Was heißt, nicht bewegt, Patrick?« Meine Mutter hastete zur Treppe. Ich schämte mich dafür, dass mir die Mondlandung wichtiger als Oa war. Ich ging zur Treppe, sah hinauf, horchte, und ich zuckte zusammen, als Mutter an der Balustrade auftauchte, mit einem Gesichtsausdruck, der mir Angst machte. Etwas drückte gegen meinen Magen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, fing zu zittern an und verkrampfte mich. Als Mutter wie in Zeitlupe einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen setzte, dabei eine Hand nach mir ausstreckte, wich ich zurück, warf mich herum und raste aus dem Haus. Ich stolperte durch den Garten, an Mutters Ente vorbei, hinauf zum Hügel zwischen Zaun und Waldrand, wo ich mich auf dem bemoosten Boden niederließ, auf den Vogel konzentrierte, der vom Gartenzaun in das Gestrüpp der Brombeersträucher hüpfte, bevor er in die klare Luft aufstieg. Aus dem Wald kroch der Morgen hervor und über den Fichten und Tannen verblasste der Mond.
Wie es den Astronauten jetzt wohl erging? Mein Herz klopfte heftiger, als ich zwischen den Sträuchern einen Wagen durch die Allee kommen und am Zaun anhalten sah. Meine Mutter eilte aus unserem Haus auf den Mann zu, der gerade ausstieg. Als er sie umarmte, wusste ich, dass es Robert Staudte sein musste.
˃Vom Mond zurück und aus dem Meer gefischt˂, stand in großen Buchstaben auf der ersten Seite der Zeitung. Sie lag am Morgen auf dem Küchentisch, während Opa Neumann mir die Fliege band.
Wie gerne hätte ich das gesehen. Ich hatte die vergangenen beiden Tage bei Oma und Opa Neumann verbringen müssen. Sie hatten mir weder Fernsehen noch Radio hören erlaubt.
Ich fürchtete mich davor, meine Mutter wiederzusehen, und als sie kam, hielt ich den Atem an. Sie bemerkte mich gar nicht, sprach leise mit Oma und Opa Neumann, bis sie meine Hand nahm, und wir zur Kirche aufbrachen.
Die meisten Menschen, die uns ihr Mitgefühl aussprachen und die Hand drückten, kannte ich nur vom Sehen. Dann stand Julia vor mir. Sie umarmte mich fest und ließ mich erst wieder los, als ihre Großmutter sie am Arm packte und sie von mir wegzog.
Während der Messe saß ich neben Opa Neumann. Immer wieder blickte ich mich suchend um, konnte Julia und ihre Großmutter aber nirgendwo sehen. Ich musste Julia unbedingt die Kassette mit ihren Lieblingssongs von den Beatles geben, die ich für sie aufgenommen hatte. Meine Mutter hatte mich für die letzten Tage vor den Sommerferien vom Unterricht befreit, und ich wusste nicht, ob ich Julia noch einmal sehen würde, bevor sie mit ihren Eltern nach Rom flog, wo ihr Vater herkam, und wo sie künftig leben würde.
Das Getöse der Orgel erschreckte mich, und ich war froh, dass Opa Neumann mich vor sich her ins Freie schob. Meine Mutter nahm meine Hand, und ich trottete neben ihr über den Friedhof, zu jenem Erdloch, neben dem der Sarg aufgebahrt stand. Als er in das Grab abgeseilt wurde, und der Chor ein »Kyrie Eleison« anstimmte, zischte einer von den Düsenjägern vorüber, die Oa so gefürchtet hatte. Er bohrte sich neben der Kirchturmspitze in den Himmel.
Читать дальше