Im Spiegel betrachtete ich meine dunklen Haare, drehte den Kopf nach allen Seiten und schielte dabei immer wieder auf den Kopf von John Lennon. Ich verwischte meinen Seitenscheitel, kämmte die Haare in die Stirn und fing an mit einer spitzen Schere so lange daran herumzuschnippeln, bis sie mir alle gleich lang erschienen. Es störte mich, dass sie an den Ohren zu kurz waren. Durch mein Zupfen wurden sie aber auch nicht länger. Ich würde Geduld haben müssen. Aus dem Drahtkleiderbügel, der an einem Haken hing, versuchte ich, im Schuppen hinter dem Haus, mit einer Zange eine Nickelbrille zurechtzubiegen. Der Draht war zu steif. Ich gab erst auf, als ich mir einen Finger blutig gerissen hatte. Da entdeckte ich eine mit Draht umwickelte Spindel. Und ich hatte Glück. Dieser Draht war um einiges dünner und ließ sich so formen, wie ich es mir vorstellte. Zurück im Haus setzte ich das Gestell auf. Der Draht drückte zwar hinter den Ohren, aber ich würde mich mit der Zeit daran gewöhnen, da war ich mir absolut sicher. Je länger ich mich im Spiegel betrachtete, um so mehr Ähnlichkeit entdeckte ich zwischen mir und John Lennon. Und wenn ich erst einen Schnauzer haben würde …
Als Oa zurückkam, geriet sie wegen meinem Haarschnitt völlig außer sich. Ich guckte ganz entsetzt, als sie sagte, ich müsse noch einige Jahre warten, bis bei mir der Bart sprießen würde.
An meinem zehnten Geburtstag, im Oktober, packte ich eine seidig glänzende und mit Schulterklappen versehene Jacke aus und fiel Oa stürmisch um den Hals.
»Für die Hose blieb keine Zeit mehr«, sagte sie.Wichtiger war mir sowieso, dass ich mich bei Oa und meiner Mutter durchsetzen konnte und meine Haare um die Ohren nun etwas voller tragen durfte.
Opa Neumann sagte dazu, meine Mutter würde mir zu viel durchgehen lassen. Ich hatte Glück, dass sie nicht auf ihn hörte. Zwischen den beiden stimmte die Chemie sowieso nicht besonders, hatte Oa einmal gesagt. Und das war manchmal auch zu spüren. Bestimmt besuchten uns Opa und Oma Neumann deswegen so selten. An Geburtstagen und zu Weihnachten. Ansonsten trafen wir die beiden immer sonntags nach der Messe am Grab meines Vaters. Da war etwas mit seinem Herz gewesen, von Geburt an, wusste ich von Oa.
Wenn ich an meinen Vater denke, sehe ich ihn auf dem Bauch liegend, wie er eine Kante des sandfarbenen Wohnzimmerteppichs umschlug, auf dieser Erhebung meine Plastikindianer aufstellte, wie einer von ihnen in seiner Hand lautlos angeschlichen kam. Ich tat immer so, als würde ich ein Plastikpferd zähmen. Dabei lauerte ich nur darauf, dass der Indianer mich gefangen nahm. Ich wehrte mich nie, wenn Vater den Indianer losließ, mich packte, hochwarf und wieder auffing. Je lauter ich juchzte, umso häufiger ließ Vater mich fliegen. So lange, bis wir beide völlig außer Atem auf der Couch lagen.
»Was willst du denn mal werden?«, riss Opa Neumann mich aus meinen Gedanken.
»Astronaut«, sagte ich ganz spontan. Die kannte ich aus dem Fernsehen. Weltraumflüge waren sehr populär.
Opa Neumann nickte schmunzelnd.
Das hätte er sicher nicht getan, wenn ich gesagt hätte, dass ich Beatsänger werden wollte. Die Erwachsenen bezweifelten, dass der Einfluss dieser sogenannten Hippies gut für die Jugend sei, seitdem John Lennon behauptet hatte, er und die Beatles seien populärer als Jesus. Davon hatte ich auf dem Pausenhof gehört. Von den älteren Jungs. Über die ärgerte ich mich, wenn sie so arrogant taten, als würden sie John Lennon und die anderen drei persönlich kennen.
Eines Morgens fiel mir das Mädchen mit den langen, blonden Haaren aus der Parallelklasse auf. Julia! Auf dem Pausenhof hörte ich des Öfteren jemanden sie so rufen. Sie saß im Innenhof des Schulgeländes bei einer Lärche alleine auf der Bank, vertieft in eine Bravo.
Ich hievte mein Rad in einen Ständer, kettete es an und ging zu ihr hinüber.
»Darf ich mitgucken?«, fragte ich ohne lange zu überlegen.
Sie sah mich an und sagte: »Ach, du.«
Es klang, als ob wir uns kennen würden, andererseits war ich mir nicht sicher, ob das nun eine Aufforderung zum Hinsetzen war oder ob ich verschwinden sollte.
Sie strich sich mit einer fahrigen Bewegung die Haare hinter das Ohr, die dort nicht bleiben wollten, grinste und sagte: »Super, dass du deine Haare wie er trägst.« Sie hielt mir das ausklappbare Poster in Heftmitte von Paul McCartney hin. »Letzte Woche hat er Linda geheiratet«, sagte sie seufzend.
»Mach dir nichts draus«, sagte ich. »Wenn du willst, heirate ich dich später.«
»Aber nur, wenn du einmal so berühmt wirst wie er.« Sie sprang auf und eilte auf das Schulgebäude zu.
Und ich lief ihr hinterher.
Von nun an wartete ich jeden Morgen im Schulhof auf Julia. Am meisten fieberte ich dem Donnerstag entgegen. Da erschien die neue Bravo. Julia kaufte sie am Bahnhofskiosk, wo sie auf den Bus wartete. Endlich kam der den Schulberg heraufgeschnauft.
»Seit wann kennst du die?«, wollte Willi wissen, der vom ersten Schultag an neben mir saß.
»Sie hat immer alle News über die Beatles«, sagte ich voller Stolz, mal wieder eines der aufgeschnappten Englischwörter anbringen zu können.
In letzter Zeit ging es meist um Johns neue Flamme Yoko Ono und deren angespanntes Verhältnis zu den anderen dreien. Neugierig war ich auch immer auf die Platzierungen der Songs der Beatles in den Lesercharts. Dass Scott McKenzie sie mit San Francisco von der Spitze verdrängte, vermieste mir den ganzen Tag.
Sobald die Schulglocke schrillte, ließ Julia die Bravo in ihrer Büchertasche verschwinden. Sie wollte vermeiden, dass der Hofer sie damit erwischte und das Heft einkassierte. Der teiggesichtige, fast haarlose Lehrer versuchte vergeblich, uns im Musikunterricht die Genialität von Beethoven, Händel, Bach und Mozart näher zu bringen.
Dann passierte es doch. Der Lehrer Hofer lauerte Julia und mir bei der Lärche im Innenhof auf.
Während er sich über den angeblich jugendge-fährdenten Schund aufregte, ließ Julia das Heft einfach nicht los, und ich musste mit ansehen, wie in dem vierhändigen Gezerre Johns Gesicht auf dem Titelbild zerfetzt wurde.
»Herr Hofer, Sie greifen in meine Persönlichkeitsrechte ein«, sagte Julia bestimmt.
Der Lehrer ließ sie stehen und verschwand im Schulgebäude.
»Die traut sich was«, wisperte Willi mir zu, als er näher gekommen war.
Von da an begleitete ich Julia jeden Morgen zu ihrem Klassenzimmer. Ich war mächtig stolz auf sie, dass sie so mutige Sachen sagte. Jeder sollte sehen, dass sie meine Freundin war. Mir egal, dass die anderen Mädchen darüber blöd kicherten, meine Kameraden mich damit aufzogen. Es dauerte eine Zeit, bis ich begriff, was sie mit den beiden Wespenstichen meinten, die ich mir von Julia zeigen lassen sollte.
Meinen ersten Auftritt hatte ich in unserem Wohnzimmer. Während Oa den Tisch beiseite schob und es sich auf der Couch bequem machte, schlüpfte ich oben in meinem Zimmer in die Pepperjacke, setzte das Drahtgestell auf, strubbelte meine Haare und klebte mir den künstlichen Schnauzer unter die Nase, den Oa mit mir in einem Geschäft gekauft hatte, das Faschingsartikel führte. Dann fegte ich die Treppe herunter und schrie aus vollem Hals: »Sie liebt dich, yeah, yeah, yeah, sie liebt dich, yeah, yeah, yeah, denn nur mit dir allein, kann sie glücklich sei-ei-ei-ein …«
Ich war froh, dass die Beatles im Radio manchmal auch deutsch sangen, das machte sie Oa sympathischer. Über das ganze Gesicht strahlte sie und applaudierte.
Seit einigen Wochen lernte ich in der Schule Englisch. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, wie sehr sich das hinzog. Die meisten Wörter der Beatlestexte, die auf der Pepperhülle standen, konnte ich in meinem Buch nicht einmal finden. Mir war klar, dass ich so bald auch unsere Amis nicht verstehen würde. Unsere Amis. So nannte Oa sie und verdrehte die Augen, wenn ein Düsenflieger vom Wald herüberdonnerte und über unser Haus und die Allee in Richtung Stadt jagte. Was sie noch sagte, konnte ich bei all dem Getöse nicht verstehen. Oa bangte immer um unsere Fensterscheiben und um die Gläser im Küchenschrank, die vibrierten.
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