Erhard Weinholz - Blickkontakt

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Als leidenschaftlicher Stadtspaziergänger in der Tradition Kurt Pompluns («Kutte kennt sich aus») und vielleicht auch Franz Hessels durchstreift der Autor den Osten Berlins, wo er seit mehr als vier Jahrzehnten zu Hause ist. Er erkundet dabei eine Stadt, in der allein der Wandel von Dauer ist, und nimmt Sehenswürdiges in den Blick, das kein Baedeker verzeichnet. Aktuelles Erleben verbindet sich in seinen Texten mit persönlicher Erinnerung und Zeitgeschichtlichem. Sie sind nicht zuletzt ein Versuch, Vergangenes oder vom Verschwinden Bedrohtes vor dem Vergessen zu retten.

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Erhard Weinholz

Blickkontakt

Unterwegs in Berlin

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Inhaltsverzeichnis Titel Erhard Weinholz Blickkontakt Unterwegs in Berlin - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Erhard Weinholz Blickkontakt Unterwegs in Berlin Dieses ebook wurde erstellt bei

Revolutionen bei Nacht

Stilles Berlin. Der U-Bahnhof Klosterstraße

Letzte Gefechte

Alexanderplatz, Hinterhof

Straßenbekanntschaften

Stadtbildbetrachtung

Finderlohn

Haltepunkt. Orte in Berlin: Frankfurter Tor

Fünf Spielplätze

Haltepunkt. Orte in Berlin: Ostkreuz. Bahnsteig A

Kreuz des Ostens

Berliner Nahverkehr

Neue Mitte

Impressum neobooks

Revolutionen bei Nacht

Hin und wieder stöbere ich sonntags auf dem Markt am Mauerpark, an der Bernauer Straße, in Angeboten türkischer Händler. Wenn ich dann hinüberlaufe zum nächstgelegenen Trödelmarkt, zum Arkonaplatz, passiere ich die Rheinsberger. Weit zieht sie sich dahin, von Häusern gesäumt, denen der geschichtsträchtige graue Putz abgeschlagen wurde und die nun bunt und langweilig sind. Fast jede Straße im östlichen Ringbahnbereich weckt in mir Erinnerung. So auch sie: Hier hatten in den frühen Siebzigern zwei Bekannte gewohnt, Tina und Helfried, von uns Helle genannt.

Helle kam aus Luckenwalde und war bei der Deutschen Werbe- und Anzeigengesellschaft, der DEWAG, angestellt. Bevor er in die Rheinsberger hatte ziehen können, kampierte er einige Zeit bei Jogi, der eigentlich Jochen hieß, auch er ein Luckenwalder und mein Studienfreund. Während ich nur weit draußen im Wohnheim untergekommen war, hatte er es gleich im ersten Semester geschafft, in einem alten Haus im Bötzowviertel, Eigentum einer Erbengemeinschaft, die einstige Hausmeisterwohnung zu mieten. Sie war ein Anbau auf dem Hof: Zwei hohe, schmale, düstere Räume, vollgestellt mit ramponierten, von den Hausbesitzern ausrangierten Möbeln. Einmal im Monat erschien einer der Erben, ein stets schwarz gekleideter älterer Herr, um die vereinbarten 70 Mark zu kassieren. Nicht selten musste Jogi sie schuldig bleiben. Denn er fetete gern. Gelegentlich war auch ich dabei. Vom Band kam Musik, Led Zeppelin, Janis Joplin, Crosby, Stills, Nash and Young, wir rauchten die Bude voll, tranken dies und das, und ich hörte von der Luckenwalder Dutschke-Familie – Rudi war inzwischen eine fast schon mythische Figur. An den Wänden standen Hesse-Sprüche. „Wohin gehen wir denn? Immer nach Hause.“ Helle unterhielt uns mit DEWAG-Geschichten. Was er bei dieser Firma eigentlich machte, die für die Plakatwerbung und für den Straßenschmuck bei Staatsakten aller Art zuständig war, ist mir unklar geblieben. Viel Zeit verbrachte er jedenfalls in einer Kneipe nahebei, Rosenthaler, Ecke Gipsstraße, dem Pilsener Stübl , auch Pilsener Urquell oder kurz Piu genannt. Jogi holte aus dem Vertiko einen schon recht verschlissenen Briefumschlag, darin ein knappes Dutzend unscharfer Fotos: Ein Paar beim Liebesspiel in der Badewanne. Er hatte sie zu Hause vor dem Bildschirm aufgenommen, das Westfernsehen – war es der SFB?, das ZDF? – zeigte damals hin und wieder eine Weile nach Sendeschluß, mitten in der Nacht, Pornofilme. Ein anderes Bild stammte aus einer Westillustrierten: Langhans und Teufel liefen in großen Schritten durchs nächtliche Berlin, langhaarig, bärtig, in langen Mänteln und mit kleinen, kreisrunden Brillen. Besonders diese Brillen habe ich geliebt. So musste die Revolution einherkommen, eine Revolution, die ein ganz anderes Leben versprach als jene aus der Not geborene sozialistische, auf die man uns verpflichten wollte.

Gegen Ende meines vierten Semesters, in der letzten Maiwoche, kam in Berlin das höchste Gremium der FDJ zusammen, ihr Parlament; den Delegierten überließ man unser Internat. Helle wohnte inzwischen in der Rheinsberger, Jogi nahm mich auf. Im kleineren der beiden Zimmer saß ich abends auf dem muffigen Sofa, auf dem ich auch schlief, und las mit Vergnügen Henry Miller. Die Wendekreise und Stille Tage in Clichy hatten die Verantwortlichen in der Unibibliothek zum Schutze unserer Sittlichkeit gesperrt, doch Big Sur , Der Koloss von Maroussi und Lachen Liebe Nächte waren frei verfügbar.

Einmal kam in dieser Woche Helle mit seiner Freundin Tina bei uns vorbei. Tina war eine tolle Frau, sah sehr gut aus und hatte Witz. Sie lachte viel, und doch war sie, so schien mir, unzufrieden mit ihrem Leben. Wir gingen zum Saalbau Friedrichshain, es war ein warmer Abend, und tranken im Freien. Tina war, glaube ich, Zahnarzthelferin; unterwegs hatte Helle uns erzählt, dass sie mit einem Arzt – ihrem Chef? –, der unerhört scharf auf sie sei, für Geld ins Bett gehe. Jogi und ich fanden es amüsant. Worüber wir sprachen unter den großen Bäumen vor der Kneipenhalle, habe ich längst vergessen, weiß nur noch, dass sich Helle von mir ein Miller-Buch erbat. Zu Hause bei Jogi feierten wir weiter, aber ich zog mich bald zurück von den dreien, hörte, wie Tina und Helle Sex machten, und schlief dennoch bald ein. Am nächsten Morgen brach er, der eigentlich ein Langschläfer war, früh zur Arbeit auf. Tina vergnügte sich mit Jogi, dann ging auch sie. Kurz darauf machten wir beide uns auf den Weg, liefen hinüber zur Straßenbahn; Jogi war müde, aber wohlgelaunt, ganz im Gegensatz zu mir.

Nicht lange danach fuhr ich an einem Vormittag mitten in der Woche zu Tina und Helle in die Rheinsberger, um ihnen den versprochenen Miller zu bringen. Ich nahm am Haus der Elektroindustrie den 16er; am Arkonaplatz stieg ich aus, es war die Endstation. Die Gegend, nur ein paar Busminuten vom Alex entfernt, war mir unbekannt. Unter gleichmäßig dünn bewölktem Himmel lag der große Platz mit seinen Rasenflächen, Büschen und Bäumen und der Pergola zwischen hohen, grauen Häusern still und unbelebt da; ich kam mir vor wie am Ende der Welt. Das gesuchte Haus fand ich nahebei; die andere, nördliche Seite der Straße war schon Sperrgebiet. Ich klingelte vergebens, steckte das Buch bei ihnen in den Briefkasten.

Helle begann dann ein Studium an der Babelsberger Filmhochschule, irgend etwas Ökonomisches, ich verlor ihn bald aus den Augen. Tina hatte ich ohnehin nur an diesem Abend im Mai gesehen. Einmal bin ich ihr noch begegnet, Mitte der Neunziger auf der Dimi. Sie sah genau so aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich lief eine Weile hinter ihr her und überlegte, ob ich sie ansprechen solle. Aber dann fiel mir ein: Das konnte sie nicht sein. Es waren ja mehr als zwanzig Jahre vergangen seitdem.

(2012)

Stilles Berlin. Der U-Bahnhof Klosterstraße

„Ich entsinne mich, dass mich die Menschenleere in Berlin erstaunte“, schrieb der polnische Dichter Witold Gombrowicz, als er 1963 im Westteil der Stadt zu Gast war. Manches Mal hatte er gemeinsam mit Ingeborg Bachmann zu Fuß diesen Westen erkundet, und wenn, so ist bei ihm zu lesen, irgendwo in der Ferne jemand erschien, riefen sie: „Ein Mensch am Horizont!“ Und im Osten? Stargarder Straße 1966 , ein Foto von Ursula Arnold: Mittagszeit, nur wenige Passanten sind unterwegs; am Gehsteigrand lässt ein alter Mann seinen Hund Männchen machen, zwei alte Leute schauen zu, während sich von links tatsächlich ein Auto nähert. Noch in den Achtzigern waren wir, meine Freunde und ich, wenn wir abends von der Kneipe in der Oderberger nebeneinander heimliefen, auf dem breiten Fahrdamm meist völlig allein. Das strapaziöse Getümmel auf den Straßen und Plätzen der Weltstadt, dann der Weltkriegsstadt, hatte sich verflüchtigt, man war nun auch meist unter sich. So lebte es sich hier trotz Mauer und Sperrgebiet entspannter denn je. Und wenn wir gar unbehelligt auf der Straßenmitte laufen konnten, wurde Berlin (Ost) für uns fast schon zur freien Stadt – obwohl wir vor uns immer die Grenzanlagen sahen.

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