Nach einiger Zeit hörte sie die Kinderzimmertür aufgehen und Tobias im Flur sagen: „Okay, ich gehe ein bisschen mit Killa raus und du machst solange meinen Lateintext. Echt, Mann, ich verstehe in Latein überhaupt nichts mehr.“
„Ich auch nicht“, hörte Lilie Ilias sagen.
„Aber bei dir stimmen die Übersetzungen immer. Außerdem stehst du in Latein auf einer glatten Eins. Wie schaffst du das?“
„Es fliegt mir zu. Es ist Zauberei“, sagte Ilias und lachte.
Lilie trat grinsend aus ihrem Zimmer.
Sie sah, wie Ilias Tobias die Leine, die Tasche mit Leckerlis und eine rote Tüte in die Hand drückte.
„Wenn Killa draußen kackt, musst du ihre Kacke in so eine rote Tüte machen“, erklärte Ilias ihm.
Tobias verzog das Gesicht.
„Auch, wenn keiner hinsieht?“, fragte er.
„Dann kommt es darauf an, wo sie gekackt hat. Wenn sie ins Gebüsch gemacht hat, lass es liegen. Ach ja, und noch etwas. Du darfst sie auf der Heide hinter dem Haus von der Leine lassen. Sie folgt eigentlich ganz brav.“
Tobias schien jetzt richtig aufgeregt zu sein. Deshalb schlüpfte er in seine Schuhe, ohne richtig hinzugucken. Er war zu sehr mit Killa beschäftigt. Sonst hätte er das Loch gesehen. Sonst hätte er gesehen, dass sein großer Zeh vorne links herausguckte. Lilie unterdrückte ein Kichern, als er nach draußen ging. Dann lief sie in ihr Zimmer, guckte aus dem Fenster und sah, wie Tobias stolz mit Killa an der Leine die Wiese hinter dem Haus überquerte und hinter dem Hügel in Richtung Heide verschwand. Sie hieß „Fröttmaninger Heide“ und sollte eines Tages ein richtiges Naturschutzgebiet werden. Sie war ein Traum für Hunde, aber ein Albtraum für die Besitzer. Auf der Heide gab es jede Menge Mäuse und Kaninchen und ein Schäfer ließ gerade seine Schafe dort weiden. Das waren drei feine, tierische Leckerbissen inmitten einer hohen Graslandschaft.
Kaum war Tobias weg, setzte sich Ilias an den Küchentisch und zauberte. Sein Zaubermeister hieß Google und übersetzte alle lateinischen Sätze. Google half auch bei Schulaufgaben. Natürlich sammelten die Lehrer die Handys vor Schulaufgaben ein. Aber man konnte ja schließlich auch ein altes abgeben. Lilie fand das blöd und gemein. Aber das machte die Hälfte der Klasse so. Die andere Hälfte, zu der Tobias gehörte, traute sich nicht.
Nach einer guten Stunde kam Tobias zurück. Er klingelte Sturm. Er war ganz außer Atem. Killa hechelte und sank erschöpft auf dem Teppich im Flur nieder. „Hinter dem Wäldchen waren Schafe und Killa ist mitten in die Schafherde hinein“, erzählte Tobias aufgebracht.
„Ist doch nicht so tragisch“, meinte Ilias. „Dann musst du sie halt zurückrufen. Wozu habe ich dir die Leckerlis gegeben?“
„Was? Habe ich doch! Sie hat nicht mehr gehört. Die Leckerlis waren ihr egal. Erst als der Schäferhund auf sie zuschoss, machte sie kehrt. Ich sage euch, mit der ist nicht zu spaßen. Eure Hündin ist eine Jägerin, die wollte ein Schaf reißen.“
„Die? Ein Schaf reißen? Hey, die ist noch ein Welpe! Die wollte bloß spielen. Die dachte, das wären andere Hunde“, sagte Ilias.
„Nee, so blöd ist die nicht. Das war wie im Film. Euer kleiner Hund hat sich erst seitlich an die Herde herangepirscht und sich das schwächste Tier ausgesucht. Dann ist er wie eine Rakete in die Herde rein und hat sie gesprengt. Killa ist ein Raubtier! Pass auf!“
„Killa hat ein Kaninchenherz und sonst nichts“, sagte Ilias und umarmte die Hündin. Die leckte beherzt seine Wange. Plötzlich fiel sein Blick auf den Boden und er musste schallend lachen.
„Sag mal, Bruder, was ist mit deinen Schuhen passiert?“, fragte er.
Als Tobias sah, dass sein Zeh aus dem linken Schuh guckte, fiel ihm die Kinnlade herunter. Sein Gesicht färbte sich himbeerrot. Oje, gleich wird er schimpfen, dachte Lilie. Mit ihr. Mit Killa. Sie wich vorsichtshalber schon einmal einen Schritt zurück. Sie fühlte sich schuldig. Schließlich hätte sie die Schuhe ja in den Schrank stellen können.
„Scheiß Londoner Qualität!“, sagte er zu ihrer Verblüffung dann wütend. „Ich wollte in den anderen Laden! Aber nein! Mum bestand auf den. Und jetzt? Einmal durchs Gestrüpp und schon sind die Schuhe kaputt. Die wird was zu hören kriegen. Die kann gleich wieder einen Flug nach London buchen.“
Ilias warf Lilie einen vielsagenden Blick zu.
Lilie machte ein betroffenes Gesicht und dachte, herrje, ist der dumm!
„Hau Latein rüber, ich gehe jetzt“, murmelte Tobias dann und lächelte verschmitzt in Lilies Richtung. Sie lächelte zurück, obwohl sie überhaupt nicht wusste, warum Tobias sie so komisch angelächelt hatte.
Während Ilias die Hausaufgabe holte, kraulte Tobias Killas Kopf.
„O ja, du liebst Schafe und … Schuhe! Vor allem so hässliche rote“, sagte er und schmunzelte.
Lilie lief rot an. Deswegen hatte er so gelächelt. Er wusste, dass Killa seine Schuhe ruiniert hatte.
Killa hingegen! Sie guckte Tobias mit ihren Bernsteinaugen treuherzig nach, als er summend durch die Haustür ging.
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