»Ich weiß«, sagt Dädalus, »dass dir eigentlich die Königswürde zustünde. Dass ein … böses Schicksal dir dein Erbe und Anrecht verwehrt.« Er vergisst zu sagen, dass er es war, der dieses Schicksal herbeigeführt hat. Dennoch lausche ich erwartungsvoll seinen Worten. Was hat er mir zugedacht?
»Du wirst in deinem Palast«, sagte er, »einen Balkon finden, der sich auf einen großen Platz hin öffnet. Dort kannst du dich präsentieren und Reden halten. Und wenn du an dem hölzernen Knauf ziehst, den du neben der Brüstung siehst, wird dir dein Volk applaudieren und aus vielen Kehlen zujubeln.«
»Mein Volk?«
»So wird es sich anhören, ja. Ich habe lange an der Hydraulik getüftelt.«
Ich sacke in mich zusammen. Wieder nur eine mechanische Vorrichtung, eine Attrappe wie die, auf die mein Vater, der Stier, hereinfiel.
»Es wird dir gefallen. Da bin ich ganz sicher!«
Dädalus lächelt mir aufmunternd zu. Er tritt einen Schritt zurück, ins Freie, und legt einen Hebel um. Mit einem Knirschen senkt sich ein Wandstück herunter, um den Korridor zu verschließen. Ich könnte diese Stelle hier markieren, mit meinen Hörnern ein Kreuz in die Wand ritzen, damit sich sie wiederfinden und zerstören kann. Aber ich bin sicher, auch daran hat Dädalus gedacht und Mittel und Wege ersonnen, mich daran zu hindern, mich zu verwirren und zu narren und auf ewig zum Gefangenen in diesem Palast zu machen.
Er beugt sich herunter, um mir unter der langsam herabrutschenden Wand ein letztes Mal zuzuwinken.
»Sei nicht traurig! Du weißt ja …«, ruft er.
»Es ist für alle das Beste so«, wiederhole ich brav, was er mir immer wieder eingeschärft hat, »auch für mich.« Dädalus nickt lächelnd. Dann ist er hinter der Wand verschwunden. Mit einem dumpfen Laut schließt sie den Korridor ab, als habe sie immer schon dort gestanden.
Ich fühle mich ein wenig niedergeschlagen. Schließlich mache ich kehrt und betrete meinen Palast auf der Suche nach dem Balkon.
26.11.11
Ich betrete den Korridor. Den Faden, der hindurchläuft, rolle ich immer weiter auf: Ich habe bereits ein beachtliches Knäuel in der Hand. Ich sehe, dass der Faden unter einer der Türen verschwindet. Hier werde ich sie finden, hier wartet sie auf mich! Ich werfe das Knäuel achtlos von mir und laufe zu der Tür, die sich in nichts von den zahllosen anderen unterscheidet. Als ich sie öffne und mit ihrem Namen auf den Lippen hindurcheile, steht mir ein Wesen mit einem Stierkopf gegenüber und reißt mir mit einem seiner Hörner das Fleisch meiner Brust auf, legt mein Herz frei. Ich stürze zu Boden. »Er ist doch mein Bruder«, höre ich ihre Stimme ganz nah an meinem Ohr.
Wie viele vor mir? Und wie viele werden sie noch locken? Und all das viele Blut … Der Wasserfall in meinen Ohren wird lauter und lauter, bis nur noch ein alles verschlingendes Rauschen da ist, das mich gnädig in sich aufnimmt.
5.1.12
Ich betrete den Korridor. Eines der Fenster gegenüber den Türen geht auf einen kleinen Innenhof hinaus, in dem ein Brunnen plätschert. In der kleinen Palmengruppe zwitschern unbeschwert die Vögel. Ich stehe lange dort und genieße den Blick und die frische Luft, die zu mir hereinweht. Wie gern würde ich dort sein! Doch mit den langen Hörnern passe ich nicht durch die Fensteröffnung.
6.1.12
Ich betrete den Korridor mit den Amphibien. Mein Vater hat an alles gedacht. Selbst an Becken für die Tiere, die zwar einen Teil ihres Lebens im Wasser verbringen, aber dennoch die Große Flut nicht überleben würden. Die Käfige sind klein, aber es muss ja auch für alle Platz sein. Trotz des ständigen Getrommels des Regens oben auf dem Holzdeck höre ich die Löwen im Korridor der Raubkatzen. Sie sind schon seit Tagen hungrig. Das hat mein Vater nicht bedacht. Gestern berieten wir, wen wir an unsere Fleischfresser verfüttern sollen. Eine schwere Entscheidung, denn wie auch immer unsere Wahl ausfällt: Diese Tiere wird es nach der Flut nicht mehr geben.
Die niedlichen Kaninchen, die quirligen Eichhörnchen, die putzigen Ziegen und selbst die Nacktmulle habe ich mit Händen und Füßen verteidigt. Soll Vater doch die hässlichen Nasob?me nehmen. Sie stinken erbärmlich und sind niemandem von Nutzen. Er schien einverstanden, aber ich glaube fast, er fängt doch mit den Einhörnern an, auf die er nicht gut zu sprechen ist, seitdem ihm die Stute beim Füttern das linke Auge ausgestochen hat.
8.1.12
Ich betrete den Korridor und ziehe die Tür hinter mir zur. Der Lärm des Festes wird zu dumpfem Gemurmel herabgedämpft. Ich atme tief durch und ziehe meine Maske ab. In diesem Teil des Schlosses bin ich noch nie gewesen. Vermutlich ist dies ein Gang für Bedienstete, der zur Küche führt. Ich öffne eines der Fenster, damit die frische Luft den Schweiß auf meiner Stirn trocknet. Schon Wochen, scheint es mir, verbringen wir hier hinter verschlossenen Türen und mit hochgezogener Zugbrücke und geben uns hemmungslos dem Vergnügen hin. Im Fensterglas sehe ich an meinem Halsausschnitt eine blaue Verfärbung der Haut, doch ich messe ihr keine weitere Bedeutung bei. Stattdessen untersuche ich interessiert das kleine, zusammengeschnürte Bündel auf der Fensterbank. Ich entfalte einen langen schwarzen Umhang, in den eine Maske, eine große Sanduhr und eine Sense eingewickelt sind, deren Stiel sich ausklappen lässt. Ich werfe mir den Umhang über und fühle mich plötzlich wieder jung und voller Tatendrang, wage sogar ein paar kleine Tanzschritte und Pirouetten. Die Maske zeigt einen Totenschädel. Meine ist nutzlos geworden. Ich werfe sie einfach zum Fenster hinaus. Sie landet irgendwo in der Tiefe des Hofes, die das fahle Licht des Mondes nicht erreichen kann und im Dunkeln liegt. Die Sense in der Rechten gibt mir ein gutes Gefühl. Die Uhr schlägt. Es ist Zeit, wieder unter die Feiernden zu gehen.
9.2.12
Ich betrete den Korridor. Ach, hätte ich doch bedacht, dass es sich um ein Luftschloss handelt! Ich verliere den Boden unter den Füßen, und jetzt machen sich die Winde, allen voran Apheliotes, aber auch Lips lässt sich nicht lumpen, einen Spaß daraus, mich durch den Himmel zu blasen. Kaikias schließlich hat ein Einsehen, trägt mich fort von seinen ungestümen Kameraden und lässt mich, wenn auch nicht gerade sanft, weit im Nordosten in einem Hafen zu Boden sinken.
Reykjavik.
Jetzt im Winter nicht gerade mein Traumziel. Aber soll, heißt es, ein reges Nachtleben zu bieten haben.
26.2.12
Ich betrete den Korridor, in den der rote Faden mich leitet. Auf ihn bin ich zufällig bei meiner Wanderung durch diesen endlosen, labyrinthischen Palast gestoßen. Es muss noch jemand hier sein! Und wenn dieser Jemand einen Faden auslegt, dann führt mich dieser Faden entweder zu ihm und beschert mir eine willkommene Abwechslung in meiner eintönigen Speisenfolge – oder er führt mich zu dem Eingang, durch den er hereinkam. Und was für ihn ein Eingang ist, ist für mich der Ausgang!
Also folge ich dem Faden durch das Labyrinth. Und tatsächlich: Tageslicht und das ferne Rauschen des Meeres. Wie habe ich die Sonne vermisst in diesen einsamen Jahren! Am Ende des Korridors sehe ich blauen Himmel. Und eine Gestalt. Es ist eine Frau. Ich muss blinzeln. Sie kommt mir bekannt vor. »Schwester!«, sage ich. Meine Stimme klingt fremd und ungelenk – ich gebrauche sie seit langem nicht mehr.
»Du darfst nicht hier sein«, antwortet sie. Sie ist gealtert. Sehe ich da weiße Strähnen in ihrem Haar?
»Ich bin dem Faden gefolgt.«
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