Sie hatte es selbst nicht ganz verstanden. Sie hatte es Coran erklärt, so gut sie konnte. Jetzt hätte sie Ladhar gut gebrauchen können. Nie war er da, wenn man ihn mal brauchte.
Sie lächelte, als sie an den Gelehrten dachte. Er war ebenso anstrengend wie nützlich.
Toshira wusste genauso wie Coran, dass sie nicht bei den flüchtigen Gefangenen bleiben konnte. Im besten Fall würden sie sie irgendwann davon jagen.
Lunona, die Urdrachin, rief.
Ladhar saß als erster auf der Lichtung, die sie für die Besprechung eingerichtet hatten. Was er hier tat ging weit über seine Anstellung als Lehrer für Chan hinaus. Meren Fuchspelz, die Kauffrau, hatte dies bestimmt gewusst. Andererseits hatte er viele neue Freunde kennengelernt. Er hatte überhaupt Freunde kennengelernt. Nie zuvor hatte er so viele Gespräche mit Frauen führen können. Oberflächliche Konversation, ja. Tiefgreifende — Fehlanzeige.
Obwohl Chan sich als störrisch und widerspenstig herausgestellt hatte, erwies sie sich doch als gelehrige Schülerin. Seit er die Runen auf die Waffen aufgebracht hatte, suchte sogar die Zayao-Legende Luritri gelegentlich seinen Rat. Als Finola Meda ihre Bolzen von ihm mit Runen versehen ließ, hatte sein Leben einen weiteren Sinn bekommen. Er bewunderte, wie sie sich von der Rätin, die mit den Fallstricken der Ratspolitik zu kämpfen hatte, zu einer starken Anführerin ihres Volkes entwickelt hatte — oder Völkchens. Es bestand nur noch etwa zweihundert Überlebenden.
Ihre Entschlossenheit, ihre roten Haare. Er würde sie vermissen, wenn er von Leonsang aus mit den anderen aufbrach. Ladhar konnte sich nicht vorstellen, dass der Weg Chans und ihrer Gefährten dort endete. Er musste das Mädchen begleiten. Vieles über die Ætherkräfte musste erforscht werden. Sie im Stich zu lassen, kam nicht in Frage. Er seufzte. Zunächst mussten sie Leonsang erstmal erreichen. Möglichst lebend.
Bald darauf berieten sich die Gefährten, wie die weitere Reise nach Moran verlaufen sollte. Am Ende kam man überein, wieder bei Anbruch der Dämmerung loszuziehen.
Araneon erhob sich. “Bevor wir die Versammlung auflösen, würde ich gern noch ein paar Dinge ansprechen.”
Die Anwesenden nickten. Viele Moraner waren näher gekommen und der Diskussion gefolgt.
“Zuerst möchte ich Chan danken. Ich denke, es hat sich überall im Lager herumgesprochen. Du hast gestern allen von uns Mut zugesprochen. Trost gespendet, uns wieder aufgerichtet.” Er warf Chan einen freundlichen, fast zärtlichen Blick zu. “Menon hat mir bestätigt, dass viele kleine Blessuren spurlos verheilt sind.” Er lächelte.
“Das ist richtig.” Menon erhob sich kurz. “Erschöpfung ist zwar schwer messbar, doch ich habe niemanden mehr darüber klagen hören. Ganz im Gegensatz zum Zeitpunkt vor ihrem Rundgang im Lager.”
“Aus diesem Grund”, fuhr Araneon fort, “schlägt Finola Meda, die ehemalige Oberste Rätin Morans, eine Ehrung vor. Chan soll zur Ehrenbürgerin der Stadt ernannt werden.” Er nickte Finola zu. Sie erhob sich.
“Bürger von Moran, wenn der Tag gekommen ist, und wir diesen Krieg überstanden haben, werden wir Moran neu errichten. Ich wünsche, dass Chan dort immer willkommen ist. Dass die Clans sich darum reißen, sie als Gast in ihrem Haus begrüßen zu dürfen. Ihr Name möge nie vergessen werden.”
Sie erhob ihre Stimme zu einem lauten Ruf. “Stimmt ihr mir zu?”
Jubel erscholl. Chan war verlegen. Sie stand auf.
“Danke.” Sagte sie leise. Etwas lauter fügte sie hinzu: “Ich fühle mich geehrt.”
Im Anschluss sprachen die Gefährten noch ein wenig miteinander. Es blieb noch Zeit bis zur Dämmerung — und damit bis zum Aufbruch.
Jeder versicherte Chan, dass Toshira zu ihr zurückkommen würde. Alle lobten Chans neuen Fähigkeiten, auch wenn sie beteuerte, dass ihr Vater ihr geholfen hatte. Pheran.
Wenn sie in Leonsang eintrafen, würde Chan Adriël endlich wiedersehen. Bis dahin hielt sie sich an Vendira. Die Halbelfe brauchte sie. Sie brauchte die Halbelfe. Es war mehr als das. Freundschaft. Vertrauen.
Krelynn genoss seinen Whisky aus der Destillerie Vara & Tochter . Ein Jammer, dass es nur noch ein begrenztes Kontingent gab. Die Familie Vara würde nie wieder Whisky herstellen. Deshalb würde Hauptmann Murro den Rest seiner Existenz auch ohne Hände verbringen müssen. Was für eine jämmerliche Existenz. Ein Schrei ertönte. Das d ürfte die ersten Hand gewesen sein .
Nachdem der zweite Schrei verklungen war, empfing Krelynn Hauptmann Nizraman.
“Tretet ein, Hauptmann. Wie geht es Eurem vierten Arm?”
“Es geht. Die Schwertmeisterin, die das Mädchen beschützte, verfügt über besondere Kräfte. Ich hatte das Mädchen soweit. Meine Klinge hatte sich bereits in ihren schwächlichen Leib gebohrt. Als ich ihr den verdienten Todesstoß versetzen wollte, kam mir die Hybridin in die Quere und nahm mir meinen Arm.” Er hielt wie zum Beweis den Armstumpf in die Höhe.
“Ich werde dieser...”
“Nichts werdet ihr, Hauptmann.” Krelynns Blick war kalt.
“Die Hybridin ist bereits auf dem Weg zu Lunona. Sie denkt, sie wäre uns entkommen.”
Krelynn wechselte das Thema. “Ich habe gehört, dass auch Gehörnte keine Vorlieben für Partner entwickeln, die einen Arm weniger besitzen.”
Nizraman starrte geradeaus. “Wie ihr meint, General.”
Ein Lächeln umspielte die Lippen des Elfen. Er schenkte Whisky in einen zweiten Zinnbecher und hielt ihn dem Hauptmann hin.
“Ihr habt gute Arbeit geleistet, Nizraman. Die Menschen vertrauen unserem Spitzel. Sie ahnen nichts von seiner Existenz.”
Der Hauptmann nahm den Becher entgegen. Er schwieg.
“Seid nicht so hart mit Euch. Wenn wir erst eigene Hexer in unseren Reihen haben, wird einer davon Euren Arm sicher wieder nachwachsen lassen.”
Der Hauptmann nahm Haltung an. “Danke, General.”
“Ich wünsche, dass Eure Spione mindestens einen der Führungsoffiziere beseitigen. Die Zayao oder den mit der Augenklappe. Zweite Priorität ist die Entführung des Mädchens. Es muss überleben.”
“Jawohl, General.”
“Sie muss nicht unverletzt bleiben. Es muss nur verheilen können.”
“Ich habe verstanden.” Ein blutrünstiger Ausdruck huschte über das Gesicht des Dæmons.
“Euer Mittelsmann soll ein Auge auf unseren Elestrischen Helfer haben. Ich habe den Eindruck, er könnte sich als unzuverlässig erweisen. Keinesfalls darf er unseren Spion enttarnen.”
Krelynn zog seinen Dolch. Der Dæmon versteifte sich. Ohne Erd-Æther war die Waffe auch für ihn tödlich.
“Die Frauen der Maghar mögen einen fehlenden Arm bei einem verdienten Offizier hinnehmen. Aber würden sie sich mit einem gewöhnlichen Zweiarmigen einlassen?” Er steckte den Dolch wieder weg. “Ihr könnt wegtreten.” Der Hauptmann salutierte. Er stellte seinen Becher ab, nachdem er ihn geleert hatte, und verließ das Zelt.
Es war so einfach. Die Gehörnten waren zwar physisch stärker als Menschen oder Zayao. Doch sie waren ebenso einfach zu manipulieren. Angst machte früher oder später alle gefügig.
Die Urdrachen unterstützten seinen Plan.
Achthundert Jahre Studium psychologischen Verhaltens hatten sich ausgezahlt. Ein Dæmon unterschied sich in dieser Hinsicht nicht sehr von einem Orc oder einem Menschen. Die richtige Mischung aus Drohung, Schmeichelei, Motivation und Andeutungen sorgte immer für das gewünschte Ergebnis. Selbst bei den meisten Elfen. Sein Volk. Wie gern würde er wieder in die Wälder Sirandeyas zurückkehren. Diese Möglichkeit bekam er erst, nachdem er sein eigenes Volk in die Knie gezwungen hatte. Solange musste er sich in Geduld üben.
Indem sie alle Ætherlarven tötete, hatte die Hybridin seine Pläne verzögert. Als Teil von Lunonas Zuchtprogramm erhielt sie zumindest eine angemessene Strafe. Dank des zahlreichen Nachschubs an Wirten aus Moran sollte seine Armee in den nächsten Tagen wieder einsatzbereit sein. Die Vögel würden die Burg Leonsang ganz in Erd-Æther hüllen.
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